Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 217
Linksabbieger kollidiert mit Gegenverkehr. In der Regel haftet der Linksabbieger, wenn er seiner Wartepflicht nicht genügt und es deshalb zu einem Unfall kommt, sofern keine Besonderheiten vorliegen, in vollem Umfang oder doch zumindest zum größten Teil für die Unfallfolgen, weil an eine Verletzung des Vorfahrtrechts des geradeaus Fahrenden durch den Linksabbieger ein schwerer Schuldvorwurf anknüpft, wobei für das Verschulden des Abbiegenden der Anscheinsbeweis spricht. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass der Linksabbieger die ihn nach § 9 Abs. 1 StVO treffenden Pflichten nicht erfüllt hat, wenn er mit einem ihn links überholenden Fahrzeug kollidiert.
Rz. 218
Ist ein Kreuzungsbereich mit Ampeln sowohl für den geradeaus fahrenden als auch für den abbiegenden Verkehr versehen, kann ein Anscheinsbeweis ausscheiden, wenn die Unfallgegner darüber streiten, wer von ihnen bei Grün in die Kreuzung eingefahren ist und wer das für ihn geltende Rotlicht missachtet hat.
Rz. 219
Häufig spricht beim Auffahrunfall der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden. Wer im Straßenverkehr auf den Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm. Gegen denjenigen, der bei Dunkelheit auf ein verunfalltes Fahrzeug auffährt, spricht der Anscheinsbeweis dahin, dass er zu schnell gefahren ist oder verspätet reagiert hat. Wer auffährt, hat aber keineswegs "immer Schuld". Der Anscheinsbeweis kann dadurch erschüttert werden, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird. So kann etwa der Nachweis erbracht werden, dass ein Fahrzeug vorausfuhr, das geeignet war, dem Nachfahrenden die Sicht auf das Hindernis zu versperren und das erst unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur gewechselt hat, so dass dem Nachfahrenden ein Ausweichen nicht mehr möglich war oder es erheblich erschwert wurde. Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann auch dann erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhaltewegs "ruckartig" – etwa infolge einer Kollision – zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist. Allerdings muss ein Kraftfahrer ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden grundsätzlich einkalkulieren.
Bei einem Kettenauffahrunfall ist der Anscheinsbeweis häufig für solche Fahrzeuge erschüttert, die möglicherweise von nachfolgenden Fahrzeugen auf den Vordermann aufgeschoben worden sind. Oft wird der Anscheinsbeweis nur gegen den Letztauffahrenden anzuwenden sein, dies allerdings nur dann, wenn feststeht, dass das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist und nicht durch einen Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug den Bremsweg des ihm folgenden Fahrzeugs verkürzt hat. Steht allerdings fest, dass ein Fahrzeug in der Kette nicht auf den Vordermann aufgefahren war, sondern vom Nachfolgenden aufgeschoben wurde, kann gegen den Nachfolgenden der Anscheinsbeweis sprechen.
Der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden kommt möglicherweise nicht zur Anwendung, wenn das Auffahren im räumlich-zeitlichen Zusammenhang mit einem Einbiegen aus einer untergeordneten Straße geschieht. Fährt ein nachfolgendes Fahrzeug auf ein Fahrzeug auf, das im Begriff ist, nach links in ein Grundstück abzubiegen, rechtfertigt die Lebenserfahrung nicht die Annahme, dass ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Abbiegenden besteht; der für ein Verschulden des Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist nicht zwingend erschüttert. Unter Umständen heben sich die gegen den Abbiegenden und den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweise auf.
Bei einem Unfall auf einem Parkplatz im Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren kann grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden sprechen. Es reicht allerdings allein das "Kerngeschehen" – hier: Rückwärtsfahren – als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Die für die Anwendung eines Anscheinsbeweises gegen einen Rückwärtsfahrenden erforderliche Typizität des Geschehensablaufs liegt regelmäßig nicht vor, wenn beim rückwärtigen Ausparken von zwei Fahrzeugen aus Parkbuchten eines Parkplatzes zwar feststeht, dass vor der Kollision ein Fahrzeugführer rückwärts gefahren ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits stand, als der andere – rückwärtsfahrende – Unfallbeteiligte mit seinem Fahrzeug in das Fahrzeug hineingefahren ist.
Rz. 220
Zweifelhaft ist der Anscheinsbeweis auch häufig, wenn vor dem Auffahrunfall ein Spurwechsel des Vordermanns stattgefunden hat. Der BGH hat entschieden, dass bei Auffahrunfällen auf der Autobahn ein Anscheinsb...