Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 28
Auch psychische Befindlichkeitsbeeinträchtigungen können haftungsrechtlich relevant sein. Insoweit ist zu unterscheiden:
Rz. 29
In vielen Fällen sind psychisch vermittelte Beeinträchtigungen schadensausfüllende Folgewirkungen einer körperlichen Verletzung oder Gesundheitsschädigung. Eine psychische Beeinträchtigung kann aber durch ein Unfallgeschehen auch auftreten, ohne durch eine körperliche Verletzung oder Gesundheitsschädigung vermittelt zu sein. Sie tritt dann durch die psychische Reaktion auf ein Unfallgeschehen ein, ist also haftungsbegründend im Sinne einer Primärverletzung. Typische Beispiele sind die sog. Schockschäden, aber auch Aktual- oder Unfallneurosen. In einem solchen Fall kommt eine Haftung des Schädigers nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigung selbst Krankheitswert besitzt, also eine Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellt.
Rz. 30
Hat jemand schuldhaft die Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung eines anderen verursacht, für die er haftungsrechtlich einzustehen hat, so erstreckt sich die Haftung grundsätzlich auch auf die daraus resultierenden Folgeschäden (Sekundärschäden). Das gilt unabhängig davon, ob es sich dabei um organisch oder psychisch bedingte Folgewirkungen handelt. Die Schadensersatzpflicht für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung setzt nicht voraus, dass sie eine organische Ursache haben; es genügt vielmehr die hinreichende Gewissheit, dass die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht aufgetreten wären. Nicht erforderlich ist, dass die aus der Verletzungshandlung resultierenden (haftungsausfüllenden) Folgeschäden für den Schädiger vorhersehbar waren. Psychische Folgeschäden müssen keinen eigenständigen Krankheitswert haben.
Rz. 31
Dass unfallbedingte Befindlichkeitsbeeinträchtigungen häufig psychische Reaktionen auf das Unfallerlebnis ohne eigenständigen Krankheitswert darstellen und ein Krankheitswert durch ärztliche Atteste, die allein auf den Angaben des Anspruchstellers beruhen, ebenso wenig belegt werden kann wie dadurch, dass der Geschädigte nach dem Unfall einen Arzt aufgesucht hat, ist also praktisch nur von besonderer Bedeutung für die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen, soweit es um die Feststellung einer Primärverletzung geht.
Rz. 32
Der Schädiger hat für seelisch bedingte Folgeschäden haftungsrechtlich grundsätzlich auch dann einzustehen, wenn sie auf einer psychischen Prädisposition oder sonst wie auf einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen. Insoweit gilt nichts anderes als bei körperlichen Schäden. Der Schädiger kann sich nicht darauf berufen, dass der Schaden nur deshalb eingetreten ist oder ein besonderes Ausmaß erlangt hat, weil der Verletzte infolge von körperlichen Anomalien oder Dispositionen zur Krankheit besonders anfällig ist. Wer einen gesundheitlich schon geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als wäre der Betroffene gesund gewesen. Die volle Haftung kann daher auch in Fällen bejaht werden, in denen der Schaden auf einem Zusammenwirken körperlicher Vorschäden und der Unfallverletzungen beruht. Dies gilt grundsätzlich auch für psychische Schäden, die aus einer besonderen seelischen Labilität des Betroffenen erwachsen, etwa bei unfallbedingter Wesensveränderung, bei Depressionen, bei Aktual- oder Unfallneurosen sowie bei Konversionsneurosen.
Rz. 33
Grenzen einer solchen Haftung bestehen z.B. für Renten- oder Begehrensneurosen, bei denen der Geschädigte den Unfall in dem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlass nimmt, den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen. Zwar beruhen psychische Beschwerden, auch wenn sie wesentlich durch eine Begehrenshaltung des Geschädigten geprägt sind, äquivalent kausal auf dem Unfallgeschehen, wenn sie ohne dieses nicht oder nicht in dem erreichten Ausmaß aufgetreten wären. Die sich daraus ergebende weite Haftung für Schadensfolgen grenzt die Rechtsprechung aber durch die weiteren Zurechnungskriterien der Adäquanz des Kausalverlaufs und des Schutzzwecks der Norm ein. Dem steht nicht entgegen, dass der Begriff der Unfall- oder Rentenneurose in medizinischen Fachkreisen abgelehnt wird. Zwar ist eine Unfall- oder Rentenneurose keine eigenständige Krankheit. Die Rechtsprechung zielt aber auch nicht auf den Ausschluss einer bestimmten Krankheit, sondern auf eine Verneinung des Zurechnungszusammenhangs für Verletzungsfolgen, die auf einer Begehrenshaltung beruhen. Solche Begehrenshaltungen müssen ihre Ursache nicht in nur einer bestimmten Krankheit haben, sondern können aufgrund unterschiedlicher Umstände entstehen. Für die Beurteilung, ob eine neurotische Begehrenshaltung prägend im Vordergrund steht, kommt es auf den Schweregrad des objektiven Unfallereignisses und seiner objektiven Folgen an. Für die Verneinung des Zurechnungszusammenhangs zwischen unfallbedingten Verletzungen und Folgeschäden wegen einer Begehrensneurose ist es erforderlich, aber auch ...