Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 229
Bei der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten, die typischen Gefährdungen entgegenwirken sollen, findet der Beweis des ersten Anscheins Anwendung, wenn sich in dem Schadensfall gerade diejenige Gefahr verwirklicht, der durch die Auferlegung bestimmter Verhaltenspflichten begegnet werden soll. Hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast muss zwischen der Feststellung der objektiven Pflichtwidrigkeit bzw. Verletzung der Verkehrssicherungspflicht und dem Nachweis eines Verschuldens des Schädigers unterschieden werden. Hinsichtlich der Feststellung einer objektiven Pflichtwidrigkeit verbleibt es bei der Beweislast des Geschädigten. Steht eine objektive Pflichtverletzung fest, muss der Schädiger bei vertraglichen Ansprüchen darlegen und beweisen, dass ihm oder den Personen, für die er einzustehen hat, kein Verschulden zur Last fällt. Bei Ansprüchen aus unerlaubter Handlung wird bei einer feststehenden Verletzung der äußeren Sorgfalt entweder die Verletzung der inneren Sorgfalt indiziert oder es spricht ein Anscheinsbeweis für die Verletzung der inneren Sorgfalt.
Rz. 230
Es besteht z.B. eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sich ein Geschädigter bei einem entsprechenden Hinweis auf die besondere Verletzungsgefahr bei Saltosprüngen durch ungeübte Personen hinweisgerecht verhalten und von dem Sprung Abstand genommen hätte. Dagegen greift der Anscheinsbeweis nicht, wenn etwa der Fahrer eines Quad, den der Betreiber des Erlebnisparks ohne Schutzhelm hat fahren lassen, nach einem Unfall Verletzungen aufweist, die ein Helm nicht verhindert oder vermindert hätte. Alleine die Tatsache, dass es zu einem Unfall gekommen ist, begründet ohnehin keinen Anscheinsbeweis für eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht bzw. deren Ursächlichkeit für einen Unfall.
Rz. 231
Der Sturz eines Fußgängers auf einem schneebedeckten Gehweg rechtfertigt für sich genommen keinen Anscheinsbeweis für die Verletzung der Streupflicht durch den Verkehrssicherungspflichtigen, denn nach der Lebenserfahrung sind Unfälle durch Winterglätte auch auf gestreuten bzw. von Schnee geräumten Wegen nicht auszuschließen. Der Anscheinsbeweis erleichtert dem Geschädigten aber regelmäßig den Kausalitätsnachweis. Stürzt etwa ein Reisender auf dem nicht gestreuten Bahnsteig eines Bahnhofs, spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass die Verletzung der Streupflicht durch den Bahnbetreiber für den Unfall ursächlich geworden ist. Zu beachten ist, dass zwar der Kausalzusammenhang zwischen einer objektiven Pflichtverletzung und einem eingetretenen Schaden unter Zuhilfenahme des Anscheinsbeweises bejaht werden kann, wenn jemand in unmittelbarer Nähe einer Gefahrenstelle Schaden erleidet; doch muss zuvor die objektive Pflichtverletzung festgestellt sein.
Rz. 232
Der Anscheinsbeweis dafür, dass ein Unfallgeschehen auf der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht beruht, ist oft erschüttert, wenn nach den Umständen eine andere Unfallursache in Betracht kommt. Wird etwa der Besucher einer Gaststätte verletzt am Fuß einer Treppe gefunden, deren Bauweise nicht in jeder Hinsicht verkehrssicherungsrechtlich unbedenklich ist, kann der Anschein erschüttert sein, wenn der Gast so stark alkoholisiert ist, dass der Unfall alleine darauf beruhen kann. Eine Alkoholisierung kann auch den Anscheinsbeweis für einen mitwirkenden Ursachenbeitrag des Geschädigten rechtfertigen.
Rz. 233
Ein Anscheinsbeweis kommt auch im Fall des § 836 BGB in Betracht. Bricht eine Treppenstufe bei zulässiger Belastung (was als "Ablösung von Gebäudeteilen" angesehen werden kann), spricht der Anscheinsbeweis für fehlerhafte Errichtung oder mangelhafte Unterhaltung.