Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 1324
Wegerechtsfahrzeuge bleiben an die Verkehrsvorschriften gebunden. Der Einsatzfahrer darf in dem in § 38 Abs. 1 StVO definierten Fällen die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht in Kauf nehmen. Nur wenn er nach den Umständen annehmen darf, dass andere die Zeichen (blaues Blinklicht, Einsatzhorn) wahrgenommen haben, darf er von dem ihm ausnahmsweise eingeräumten Vorrang ausgehen. Dies gilt auch für sonstige Sonderrechtsfahrzeuge nach § 35 StVO. Die Betriebsgefahr solcher Einsatzfahrzeuge wird bei der Abwägung daher selten zurücktreten können. Ihr Zurücktreten kann aber dann gerechtfertigt sein, wenn ein Pkw-Fahrer, der das mit Sondersignalen an eine Kreuzung herannahende Einsatzfahrzeug wahrgenommen hat, dieses völlig ignoriert und seine Fahrt fortsetzt.
Rz. 1325
Kollidiert ein Einsatzfahrzeug, an dem das blaue Blinklicht sowie das Einsatzhorn eingeschaltet waren und das trotz roten Ampellichts in einen Kreuzungsbereich eingefahren ist, mit einem Pkw, für dessen Fahrer das Sondersignal in der Dunkelheit seit mindestens 7 Sekunden vor dem Unfall sichtbar war, so ist hälftige Haftungsverteilung sachgerecht.
Rz. 1326
Dies ist allerdings nicht der Fall, wenn das Einsatzfahrzeug mit einer Geschwindigkeit von über 40 km/h in die Kreuzung fährt, ohne auf die weiteren Verkehrsteilnehmer auch nur ansatzweise zu achten. Die von ihm in Anspruch genommen Sonderrechte vermögen sein unverantwortliches und rücksichtslos Verhalten nicht zu rechtfertigen, so dass der Verursacherbeitrag überwiegt (hier: 80 %).
Rz. 1327
Nähert sich ein Kraftfahrer mit unverminderter Geschwindigkeit auf einem von zwei Fahrspuren einer für ihn Grünlicht zeigenden Ampel, obwohl Verkehrsteilnehmer in der anderen Fahrspur angehalten haben, und geht er ohne belegbaren Anlass davon aus, dass das von ihm voraus wahrgenommene Martinshorn und Blaulicht schon nichts mit seinem Fahrweg zu tun haben werden, so rechtfertigt dies eine Haftungsverteilung von ⅔ zu seinen Lasten, wenn der Fahrer des bei Rotlicht aus einer querenden Straße kreuzenden Einsatzfahrzeugs seinerseits das herannahende Fahrzeug nicht bemerkt.
Rz. 1328
Den gem. § 38 Abs. 1 StVO Bevorrechtigten trifft eine Mithaftung von 25 %, wenn das Wegerechtsfahrzeug wegen der Reaktion des Fahrers auf einen Fußgänger außer Kontrolle und mit hoher Geschwindigkeit auf die Gegenfahrbahn gerät.
Rz. 1329
Fährt ein Fahrzeug unter Verstoß gegen § 11 Abs. 2 StVO in die Rettungsgasse und kommt es zu einer Kollision mit dem dort zum Einsatz fahrenden Feuerwehrfahrzeug, kommt eine volle Haftung in Betracht.
Rz. 1330
Kollidiert ein im Einsatz befindlicher Rettungswagen beim Überholen mit einem Linksabbieger, so kommt es zur Beurteilung der Frage, ob das Rettungsfahrzeug gem. § 35 Abs. 5a StVO im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall von den Vorschriften der StVO befreit war, darauf an, ob höchste Eile geboten war, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. War die Verkehrslage für den Rettungswagenfahrer unklar, weil er erkannt hatte, dass ein Vorausfahrender nach links abbiegen wollte, dann kann sein Überholmanöver nicht der gem. § 35 Abs. 8 StVO gebotenen größtmöglichen Sorgfalt entsprochen haben. Der Wegerechtsfahrer darf dann nicht darauf losfahren, ohne anhalten zu können. Das Vertrauen des Fahrers eines Einsatzfahrzeuges, dass die übrigen Verkehrsteilnehmer freie Bahn verschaffen, ist nur dann geschützt, wenn der Fahrer eine entsprechende berechtigte Erwartung haben darf.
Rz. 1331
Fährt ein Sonderrechtsfahrzeug mit 65 km/h bei Rot in eine unübersichtliche Kreuzung ein, trifft den bevorrechtigten Verkehr trotz fehlenden Entlastungsbeweises keine Mithaftung.
Rz. 1332
Der Halter eines Einsatzfahrzeuges (hier: Notarztwagen) haftet bei einem Zusammenstoß des bei rotem Ampellicht in eine Kreuzung mit knapp 70 km/h einfahrenden Einsatzfahrzeuges mit einem Pkw des Querverkehrs auch dann voll, wenn Blaulicht und Martinshorn zwar rechtzeitig eingeschaltet waren, der Fahrer des Pkws jedoch die Signale nicht rechtzeitig bemerkt hat.
Rz. 1333
Den Halter eines Fahrzeuges, das mit Blaulicht aber ohne Einsatzhorn bei Rot in eine Kreuzung einfährt, trifft beim Zusammenstoß mit einem Fahrzeug des Querverkehrs grundsätzlich die volle Haftung.
Rz. 1334
Fährt ein Rettungswagen bei Rotlicht der Lichtzeichenanlage in einen Kreuzungsbereich ein und lässt sich nicht feststellen, ob neben dem Blaulicht auch das Einsatzhorn in Betrieb genommen worden war, kommt Alleinhaftung des Rettungsfahrzeughalters in Betracht.