Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 632
§ 830 Abs. 1 S. 2 BGB soll Beweisschwierigkeiten bezüglich der haftungsbegründenden Kausalität für bestimmte Fallgestaltungen der Verursachungsungewissheit begegnen und der Verschuldenshaftung Schwierigkeiten aus dem Wege räumen, die auf besonderen Überlagerungen von Geschehensketten beruhen. Sie soll bei einem bestimmten (negativen) Beweisergebnis dem Verletzten eine sonst nicht bestehende Anspruchsgrundlage gewähren.
Rz. 633
Die Bestimmung hat zwei Anwendungsfelder. Der eine Anwendungsfall liegt vor, wenn nicht aufklärbar ist, welcher von mehreren Beteiligten den Schaden herbeigeführt hat, wenn also Urheberzweifel bestehen (sog. alternative Kausalität). In diesem Fall ist jeder der Beteiligten für den Schaden verantwortlich, wenn feststeht, dass jeder der als möglicher Schädiger in Betracht kommenden Beteiligten sich in einer seine Haftung allgemein begründenden Weise verhalten hat und für keinen von ihnen auszuschließen ist, dass der gesamte Schaden von ihm allein verursacht ist. Im zweiten Anwendungsfall muss feststehen, dass jeder von mehreren Beteiligten am Verletzungserfolg mitbeteiligt war, die von jedem zu vertretende Gefährdung auch geeignet war, den gesamten Schaden herbeizuführen, aber zweifelhaft bleibt, ob jeder nach allgemeinen Grundsätzen für den gesamten Erfolg oder nur für einen Teilschaden einzustehen hat, wenn also sog. Anteilszweifel bestehen. In beiden Konstellationen setzt die unmittelbare Anwendung des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB voraus, dass jede der in Betracht kommenden Handlungen (oder Unterlassungen) bzw. die von ihnen ausgehende Gefährdung allein geeignet war, den gesamten Verletzungserfolg ohne die anderen Beiträge zu verursachen.
§ 830 Abs. 1 S. 2 BGB ist somit nicht anwendbar, wenn nicht beweisbar ist, ob überhaupt einem der Inanspruchgenommenen eine rechtswidrige Handlung zur Last gelegt werden kann oder wenn sich nicht klären lässt, ob die Schädigung bereits eingetreten war, als der Inanspruchgenommene hinzukam.
Rz. 634
Im Bereich der Gefährdungshaftung entfällt der Vorsatz als Haftungsvoraussetzung. Beteiligter im Sinne des § 830 BGB ist, wessen Tatbeitrag zu einer rechtswidrigen Gefährdung der Schutzsphäre des Betroffenen geführt hat und zur Herbeiführung der Verletzung geeignet war. Ein unerlaubter und verletzungsgeeigneter Eingriff in die Schutzsphäre liegt noch nicht in dem abstrakt gefährlichen Verhalten, an das der Gefährdungstatbestand anknüpft (etwa das Halten eines Fahrzeugs oder eines Tieres). Die bloße Existenz der Gefahrenquelle genügt nicht. Die Schwierigkeit, den "Kausalitätsverdacht" (Verursachungs- oder Anteilszweifel) zu klären, muss auf der Gleichartigkeit der Ereignisse und der Ähnlichkeit der Folgen beruhen. Hinzutreten muss aber eine konkrete Gefährdung des Betroffenen, die geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen.
Rz. 635
Eine weitere Begrenzung der Anwendbarkeit betrifft den Haftungsumfang. Trifft den Verletzten gegenüber einem der alternativ haftenden Beteiligten ein Mitverschulden, so kann auch der andere Beteiligte, wenn sein Verursachungsbeitrag nicht definitiv festgestellt werden kann, nur zu der geringsten hypothetischen Haftungsquote verurteilt werden, also zum gemeinsamen Haftungsminimum.