Rz. 587

Wichtig ist, dass die Bejahung der Deliktsfähigkeit für sich genommen noch nicht ausreicht, um die Haftung des Minderjährigen zu bejahen. Es muss dann noch – falls das Kind nicht vorsätzlich gehandelt hat – ein fahrlässiges Verhalten (§ 276 BGB) festgestellt werden.

 

Rz. 588

Dies setzt voraus, dass die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen (§ 276 Abs. 2 BGB) und dabei die Möglichkeit eines Schadenseintritts erkannt oder sorgfaltswidrig verkannt wurde sowie dass ein die Gefahr vermeidendes Verhalten möglich und zumutbar war. Bei einem Minderjährigen kommt es darauf an, ob Kinder bzw. Jugendliche ihres Alters und ihrer Entwicklungsstufe auf Grund ihrer altersgruppenspezifischen Fähigkeiten den Eintritt eines Schadens hätten voraussehen können und müssen und es ihnen bei Erkenntnis der Gefährlichkeit ihres Handelns in der konkreten Situation möglich und zumutbar gewesen wäre, sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten.[1724] Diese Voraussetzungen hat der Bundesgerichtshof im Fall des Kickboard-Rennens (vgl. Rdn 586) bejaht. Neunjährige Kinder wüssten, dass sie sich so verhalten müssen, dass ihr Kickboard nicht gegen einen parkenden PKW prallt und diesen beschädigt. Es sei ihnen auch möglich und zumutbar, dieses Spielgerät so zu benutzen, dass eine solche Schädigung vermieden werde. In dem Fall, in dem ein 7 ½-jähriges Kind einen anderen durch die Abwehr einer Biene mit einem Messer verletzt hatte,[1725] hat der Bundesgerichtshof indes ausgeführt, allein die Annahme, ein 7 ½-jähriges Kind müsse beim Versuch der Abwehr einer Wespe oder Biene beachten, dass ein anderes Kind neben ihm stehe und durch ein zur Abwehr verwendetes Messer verletzt werden könne, reiche nicht aus, um Fahrlässigkeit des Kindes zu bejahen.

 

Rz. 589

Hierfür bedürfe es vielmehr konkreter Feststellungen, die die Annahme rechtfertigten, dass normal entwickelte Kinder dieses Alters und dieser Entwicklungsstufe trotz einer möglichen Angst vor einem herannahenden Insekt in der Lage sind, die Gefahr einer Abwehrbewegung mit dem Messer in der Hand für eine danebenstehende Person zu erkennen und sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten oder ob ein Mangel an Verstandesreife Kinder dieser Altersgruppe daran hindere (sog. Gruppenfahrlässigkeit). Nach der Lebenserfahrung bestünden Zweifel daran, ob ein 7 ½-jähriges Kind diese Überlegung vor einer Abwehrbewegung anzustellen vermöge. Wenn das Berufungsgericht – trotz des Vortrags des Schädigers, er habe in einer Paniksituation ohne Überlegung gehandelt – ein solcherart überlegtes Verhalten von dem Beklagten verlangen wollte, hätte es das – gegebenenfalls nach Einholung der gutachterlichen Äußerung eines Sachverständigen – näher begründen müssen. Das ist richtig. Denn bei der Prüfung der Gruppenfahrlässigkeit sind besondere Umstände eines spontan-emotionalen Vorgangs, wie er ganzen Altersgruppen von Jugendlichen eigen ist, zu berücksichtigen, so beispielsweise die Motorik des Spieltriebs, der Forschungs- und Erprobungsdrang, der Mangel an Disziplin sowie Rauflust, Impulsivität und Affektreaktionen,[1726] aber auch eine besonderen Risikobereitschaft und Impulsivität, insbesondere in einer Gruppensituation, in der Aspekte wie Geltungsbedürfnis, spielerische Risikobereitschaft und Vermeidung des Vorwurfs der Ängstlichkeit das Verhalten von Kindern dieser Altersgruppe maßgeblich beeinflussen.[1727] Eine sachgerechte Bewertung dieser und weiterer Elemente ist oft nicht aus dem Bauch heraus ohne sachverständige Hilfe möglich.

 

Rz. 590

Die Gerichte begnügen sich in derartigen Fällen meist mit ihrer jeweiligen "Lebenserfahrung", die allerdings oft nur eine vermeintliche, sehr subjektiv gefärbte Gewissheit vermitteln kann. Sachverständigengutachten werden selten eingeholt. Die Analyse zahlreicher hart bis lebensfremd erscheinender Entscheidungen lässt eine andere Praxis als wünschenswert erscheinen. Eine nachvollziehbare sachverständige Begutachtung der für die Gruppenfahrlässigkeit bestimmter Altersgruppen wesentlichen Gesichtspunkte ist durchaus möglich.[1728] Die Regulierungsbeteiligten und die Gerichte sollten sich auf das besinnen, was Steffen 1998 geschrieben hat:[1729]

Zitat

"Ein Kind misst der BGH nicht am Erwachsenen: nicht am "bon père" wie in Frankreich, nicht am "buon padre di famiglia" wie für den Straßenverkehr in Italien, sondern er knüpft an die intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten eines normal entwickelten Kindes der entsprechenden Altersgruppe an und erwartet von dem Verkehr ebenso wie vom Rechtsanwender situationsgerechte Rücksichtnahme beispielsweise auf den Spieltrieb, den Forschungs- und Erprobungsdrang, den Mangel an Disziplin, Rauflust, Impulsivität, Affektreaktionen ... Mein erster Appell geht an die Rechtsanwender, diesen Erkenntnissen durch eine kindangemessene Beurteilung des Verschuldens Rechnung zu tragen ..."

Sicher verstellt in vielen Fällen das Wissen darum, dass ein Schadensfall, wenn man die Haftung bejaht, haftpflichtversichert ist und der Geschädigte andernfa...

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