Entscheidungsstichwort (Thema)
Fahrlässigkeitsmaßstab
Leitsatz (amtlich)
Allein die Annahme, ein siebeneinhalbjähriges Kind müsse beim Versuch der Abwehr einer Wespe oder Biene beachten, daß ein anderes Kind neben ihm stehe und durch ein zur Abwehr verwendetes Messer verletzt werden könne, reicht nicht aus, um Fahrlässigkeit des Kindes zu bejahen. Hierfür bedarf es vielmehr konkreter Feststellungen, die die Annahme rechtfertigen, daß Kinder dieses Alters und dieser Entwicklungsstufe trotz einer möglichen Angst vor einem herannahenden Insekt in der Lage sind, die Gefahr einer Abwehrbewegung mit dem Messer in der Hand für eine danebenstehende Person zu erkennen und sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten.
Normenkette
BGB §§ 276, 276 Abs. 1 S. 2, § 828 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 11. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 14. Februar 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der am 4. Dezember 1984 geborene Beklagte war Schüler einer Grundschule; nachmittags wurde er in der Kindertagesstätte der Stadt K. betreut, die auch der damals sechs Jahre alte Kläger besuchte. Am 18. August 1992 liefen beide Kinder nach Übungen im Turnraum in den Gruppenraum der Tagesstätte. Der Beklagte schälte dort mit einem Messer, das zum Gebrauch durch die Kinder bereit lag, Obst. Der Kläger stand neben ihm. Andere Kinder im Raum machten durch Zurufe darauf aufmerksam, daß sich eine Wespe oder eine Biene näherte. Bei einer Handbewegung mit dem Messer nach dem Insekt verletzte der Beklagte das rechte Auge des Klägers, dessen Linse operativ entfernt werden mußte. Die Sehfähigkeit des Auges ist beeinträchtigt.
Die Stadt K. lehnte eine Haftung (§ 839 BGB) ab. Die Eigenunfallversicherung der Stadt K. verneinte gegenüber dem Kläger ihre Einstandspflicht. Der Beklagte hat nach – zurückgewiesenem – Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid beim Sozialgericht Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
Der Kläger hat vom Beklagten ein Schmerzensgeld verlangt, das er in einer Größenordnung von 100.000 DM für angemessen hielt; ferner hat er die Feststellung begehrt, daß der Beklagte verpflichtet sei, ihm allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der aus der Verletzung vom 18. August 1992 in der Kindertagesstätte noch entstehen werde, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sei. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil dem Beklagten die Haftungsbefreiung nach §§ 539 Abs. 1 Nr. 14 a, 637 Abs. 4 RVO zugute komme. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht den Schmerzensgeldanspruch für dem Grunde nach gerechtfertigt erklärt, die begehrte Feststellung getroffen und die Sache zur Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes und die Kosten des Rechtsstreits an das Landgericht zurückverwiesen. Mit der Revision verfolgt der Beklagte sein Begehren auf Zurückweisung der Berufung weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung (veröffentlicht in OLG-Rp Köln 1996, 114–116) im wesentlichen ausgeführt, die Klage scheitere nicht an der Haftungsfreistellung für Kindergartenkinder. Die von den Kindern besuchte Tagesstätte sei ein „Hort” im Sinne von § 3 des nordrhein-westfälischen Landesgesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder vom 29. Oktober 1991 (GVBl. S. 380), auf den die Bestimmung des § 539 Abs. 1 Nr. 14 a RVO keine Anwendung finde. Der Beklagte sei dem Kläger nach § 823 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Er habe den Kläger durch ein der Bewußtseinskontrolle und Willenslenkung unterliegendes Tun verletzt, nicht durch ein lediglich unwillkürliches Zusammenzucken. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Beklagte mit der rechten Hand, in der er das Messer gehalten habe, in Richtung auf das Insekt gestoßen oder geschlagen. Diese Handlung sei rechtswidrig und fahrlässig gewesen, denn der Beklagte habe bei seinem Abwehrversuch berücksichtigen müssen, daß der Kläger neben ihm gestanden sei. Zu einem Ausschluß der Deliktsfähigkeit sei nichts Bestimmtes vorgetragen worden.
II.
Die angefochtene Entscheidung hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.
1. Zutreffend bejaht das Berufungsgericht allerdings eine „Handlung” des Beklagten. Aufgrund der Zeugenaussagen der Schwester des Klägers und der Betreuer hat es sich in rechts- und verfahrensfehlerfreier Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme davon überzeugt, daß der Beklagte mit der rechten Hand, die das Messer hielt, in Richtung auf das Insekt gestoßen oder geschlagen hat. Letzteres greift die Revision nicht an. Sie macht jedoch geltend, dieses Verhalten lasse nicht den Schluß auf eine willensgetragene Handlung zu, weil nicht fern liege und durch die Lebenserfahrung nicht ausgeschlossen werde, daß zur Abwehr stechender Insekten ein Hochreißen des Armes in Richtung des Insekts als Reaktion aus dem Unterbewußtsein erfolge. Das erweist sich indessen als eine von der des Berufungsgerichts abweichende Beweiswürdigung, mit der die Revision nicht gehört werden kann.
Das vom Beklagten angebotene Gutachten eines Sachverständigen zum Beweis dafür, daß die Schwester des Klägers als zehnjähriges Kind den drei Jahre zurückliegenden Unfall nicht aus eigener Erinnerung geschildert habe, hat das Berufungsgericht entgegen der Auffassung der Revision ohne Verfahrensfehler nicht eingeholt. Die stillschweigende Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens ist nur dann fehlerhaft, wenn die Persönlichkeit des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, daß Zweifel an der Sachkunde des Gerichts zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit berechtigt sind (vgl. BGH, Beschluß vom 12. November 1993 – 2 StR 594/93 – BGHR-StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 – Sachkunde – 6 m.w.N.). Derartige Besonderheiten legt die Revision nicht dar. Das Berufungsgericht hat zudem zurecht auch die Aussagen der Betreuer verwertet. Die von diesen wiedergegebenen Schilderungen des Geschehens seitens anderer Kinder kurz nach dem Unfall stimmen mit den Angaben der Schwester des Klägers als Zeugin überein.
2. Auch die (individuelle) Deliktsfähigkeit des Beklagten hat das Berufungsgericht – entgegen der Auffassung der Revision – ohne Rechts- oder Verfahrensfehler bejaht. Nach der gesetzlichen Regelung in § 828 Abs. 2 BGB ist ein Kind, das das siebte Lebensjahr vollendet hat, für einen Schaden, den es einem anderen zufügt, nur dann nicht verantwortlich, wenn es bei Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Diese Einsichtsfähigkeit wird also vom Gesetz bei einem siebenjährigen Kind grundsätzlich vorausgesetzt. Deshalb ist auch davon auszugehen, daß ein normal entwickeltes siebeneinhalbjähriges Kind nach seiner geistigen Entwicklung seine Verantwortlichkeit für die Verletzung eines anderen durch die Abwehr eines Insekts mit einem Messer erkennen kann. Es genügt das allgemeine Verständnis, daß das eigene Verhalten irgendwelche Gefahren herbeiführen kann. Dabei ist allein auf die Einsichtsfähigkeit des Minderjährigen abzustellen, nicht auf seine Steuerungsfähigkeit; entscheidend ist die intellektuelle Fähigkeit, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen eigenen Tuns bewußt zu sein, nicht aber die Fähigkeit, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten (vgl. Senatsurteile vom 28. Februar 1984 – VI ZR 132/82 – VersR 1984, 641, 642 unter II 1 a; vom 20. Januar 1987 – VI ZR 182/85 – VersR 1987, 762, 763 re. Sp.).
Dem Beklagten hätte es obgelegen darzutun und gegebenenfalls zu beweisen, daß er die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht nicht gehabt habe. Er hat jedoch lediglich vorgetragen, er habe aufgrund seiner besonderen persönlichen Situation nicht die Einsicht haben können, daß seine Abwehrreaktion für andere gefährlich werden könne. Sein Hinweis auf nicht verarbeitete Familienprobleme und deren Kompensation durch äußerste Lebhaftigkeit sprach ebenso wie die von den Betreuern für wünschenswert gehaltene psychotherapeutische Behandlung und die Einschätzung als „schwieriges Kind” lediglich für familiäre Schwierigkeiten des Beklagten, nicht aber für eine verzögerte Entwicklung und nicht gegen die Einsichtsfähigkeit, daß die Abwehrreaktion mit einem Messer für andere gefährlich sein konnte.
3. Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts tragen jedoch nicht die Annahme eines Verschuldens des Beklagten im Sinne auch nur leichter Fahrlässigkeit (§ 276 Abs. 1 Satz 2 BGB). Für ein zur Beweislast des Geschädigten stehendes Verschulden des Schädigers haben dessen individuelle Fähigkeiten außer Betracht zu bleiben; der Begriff der Fahrlässigkeit ist zivilrechtlich nach objektiven und nicht nach individuellen Merkmalen zu bestimmen (vgl. Senatsurteil vom 10. März 1970 – VI ZR 182/68 – VersR 1970, 467, 468 unter 2 a). Entscheidend ist, ob ein normal entwickeltes Kind im Alter des Schädigers hätte voraussehen können und müssen, daß die Abwehr einer Wespe mit dem Messer in der Hand eine neben ihm stehende Person verletzen konnte, und ob von ihm bei Erkenntnis der Gefährlichkeit seines Handelns in der konkreten Situation die Fähigkeit erwartet werden konnte, sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten oder ob ein Mangel an Verstandesreife Kinder dieser Altersgruppe daran hindert (sog. Gruppenfahrlässigkeit; vgl. Senatsurteil vom 27. Januar 1970 – VI ZR 157/68 – VersR 1970, 374, 375 unter 3 b). Hiernach ist dem Beklagten Fahrlässigkeit nur vorzuwerfen, wenn ein Junge seines Alters und seiner Entwicklungsstufe trotz einer möglichen Angst vor einem herannahenden Insekt in der Lage war, die Gefahr einer Abwehrbewegung mit dem Messer für eine neben ihm stehende Person zu erkennen und sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten. Nach der Lebenserfahrung bestehen Zweifel daran, ob ein siebeneinhalbjähriges Kind diese Überlegung vor einer Abwehrbewegung anzustellen vermag. Wenn das Berufungsgericht – trotz des Vortrags des Beklagten, er habe in einer Paniksituation ohne Überlegung gehandelt – ein solcherart überlegtes Verhalten von dem Beklagten verlangen wollte, hätte es das – ggf. nach Einholung der gutachterlichen Äußerung eines Sachverständigen – näher begründen müssen. Das ist – worauf die Revision zutreffend hinweist – nicht geschehen, so daß nicht überprüft werden kann, ob das Berufungsgericht den dargestellten Grundsätzen zu den Voraussetzungen fahrlässigen Verhaltens Rechnung getragen hat oder ob der einzige Begründungssatz, der Beklagte habe bei seinem Abwehrversuch beachten müssen, daß der Kläger neben ihm stehe, auf deren Verkennung beruht.
4. Sollte das Berufungsgericht bei erneuter Prüfung wiederum zu einer Haftung des Beklagten dem Grunde nach gelangen, wird es gemäß § 148 ZPO im Hinblick auf den hier noch anwendbaren § 638 Abs. 1 RVO die Entscheidung des Rechtsstreits bis zur endgültigen Entscheidung in dem anhängigen sozialgerichtlichen Verfahren auszusetzen haben (vgl. BGHZ 129, 195, 202 unter III 2).
Unterschriften
Groß, Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler, Dr. Greiner
Fundstellen
Haufe-Index 1128062 |
Nachschlagewerk BGH |
MDR 1997, 739 |