Fahrzeughalterhaftung bei Kettenauffahrunfall
Das OLG Celle hat sich in einem Verfahren mit der Problematik der Betriebsgefahr im Falle eines passiv in einen Kettenauffahrunfall verwickelten Fahrzeugs und der daraus resultierenden Haftung befasst.
Alkoholisierter Fahrer verursachte Kettenauffahrunfall
Der Entscheidung liegt der tragische Fall eines zum Unfallzeitpunkt gesunden 10-jährigen Jungen zugrunde. Dieser saß angeschnallt auf der Rückbank des VW Golf seiner Mutter. Als sich auf der Bundesautobahn ein Stau bildete, bremste die Mutter, die den rechten Fahrstreifen benutzte, bis zum Stillstand ab. Vor ihrem Fahrzeug stand bereits ein Pkw Seat. Von hinten näherte sich auf der Überholspur ein unter Alkoholeinfluss stehender Dodge, der aus ungeklärter Ursache plötzlich auf den rechten Fahrstreifen wechselte und ungebremst auf das mit Mutter und Kind besetzte Fahrzeug auffuhr. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der Golf gegen den davor stehenden Seat und dieser wiederum gegen ein davor fahrendes Fahrzeug geschleudert.
10-jähriger Junge lebenslang pflegebedürftig
Der 10-jährige Junge erlitt bei dem Unfall schwere, lebensbedrohliche Verletzungen, unter anderem ein offenes Schädel-Hirn-Trauma, Mittelgesichtsfrakturen sowie eine Hüftverletzung. Er wird voraussichtlich für den Rest seines Lebens vollständig pflegebedürftig sein. Sowohl der Fahrzeugversicherer des Golf als auch der Fahrzeugversicherer des Dodge erkannten eine gesamtschuldnerische Haftung für die entstandenen Sach- und Gesundheitsschäden an.
Versicherung des Seat lehnte Eintrittspflicht ab
Die Fahrzeugversicherung des Seat lehnte eine gleichlautende Erklärung mit der Begründung ab, für den nur passiv beteiligten Fahrer des Seat sei das Unfallereignis unabwendbar gewesen. Mit seiner Klage begehrt der verletzte Junge eine gesamtschuldnerische Haftung auch der beklagten Fahrzeugversicherung des Seat. Das Landgericht hatte die Klage in erster Instanz abgewiesen. Das Gericht teilte die Auffassung der Versicherung, dass der Unfall für den Fahrer des Seat ein unabwendbares Ereignis gewesen sei.
Gefährdungshaftung bezieht auch passiv beteiligte Fahrzeuge ein
Das OLG Celle gab der hiergegen eingelegten Berufung des Klägers im wesentlichen statt und sprach ihm den geltend gemachten Anspruch auf Schadenersatz gegenüber der beklagten Versicherung zu. Nach der Bewertung des OLG war der Unfall beim Betrieb des Seat entstanden, so dass die Gefährdungshaftung des § 7 Abs. 1 StVG greife. Der im Stau befindliche Seat sei, auch wenn er sich zum Unfallzeitpunkt nicht mehr bewegt habe, in seiner Funktion als Fortbewegungs- und Transportmittel in den Auffahrunfall verwickelt worden (BGH, Urteil v. 26.3.2019, VI ZR 236/18).
Halterhaftung knüpft allein an den Betrieb eines Fahrzeugs an
Die Argumentation der Beklagten, der Unfall sei nicht Folge einer spezifischen, durch den Seat geschaffenen Gefahrenlage, überzeugte den Senat nicht. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG sei der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs in erlaubter Weise eine Gefahrenquelle eröffnet wird. Die Vorschrift erfasse sämtliche durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe, die durch den Betrieb des Kraftfahrzeugs mitgeprägt werden (BGH, Urteil v. 24.3.2015, VI ZR 265/14).
Gefährdungshaftung erfasst das gesamte Gefahrenpotenzial des Straßenverkehrs
Ein Stau auf der Autobahn ist nach der Bewertung des Senats eine typische, gefahrengeneigte Verkehrssituation, die nicht selten zu Auffahrunfällen führe. Erst wenn sich in einem Schadensfall ein Risiko verwirkliche, das aus einem außerhalb des Straßenverkehrs liegenden, eigenständigen Gefahrenkreis stammt, werde der Schaden nicht mehr von dem Schutzzweck des § 7 StVG erfasst (BGH, Urteil v. 11.2.2020, VI ZR 286/19).
Dritteinwirkung unterbricht nicht in Zurechnungszusammenhang
Diese Beurteilung ändert sich nach Auffassung des OLG auch nicht dadurch, dass der Fahrer des Dodge, der die Kontrolle über das von ihm geführte Fahrzeug verloren hatte, das Unfallgeschehen maßgeblich bestimmt hat. Diese Dritteinwirkung rechtfertige nicht den Schluss, dass es an dem für die Gefährdungshaftung erforderlichen Zurechnungszusammenhang zwischen dem eingetretenen Schaden und dem Betrieb des Seat gefehlt habe
Sekundärkollision war mitursächlich für Schadensentstehung
Auch den Einwand, der gesamte, dem Kläger entstandenen Schaden sei bereits durch den primären Anstoß durch den Dodge verwirklicht worden, ließ der Senat nicht gelten. Der Senat hat insoweit Beweis erhoben und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Sekundärkollision mit dem Beklagtenfahrzeug die Schädigung des Klägers mitverursacht und verschlimmert hat. Dies genüge um eine gesamtschuldnerische Mithaftung der Haftpflichtversicherung des Beklagtenfahrzeugs auf den Gesamtschaden zu begründen.
Kein Fall höherer Gewalt
Entgegen der Auffassung des LG war die Haftung der Beklagten nach der Entscheidung des OLG auch nicht durch höhere Gewalt gemäß § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen. Höhere Gewalt setze ein außergewöhnliches, betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder Handlungen Dritter herbeigeführtes und nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbares Ereignis voraus. Eine solche Einwirkung von außen sei vorliegend nicht ersichtlich, vielmehr sei das Unfallgeschehen auf ein innerverkehrliches Geschehen zurückzuführen.
Beklagte Versicherung haftet als Gesamtschuldnerin auf den gesamten Schaden
Im Ergebnis hat das OLG durch Urteil festgestellt, dass die beklagte Versicherung als Gesamtschuldnerin verpflichtet ist, dem Kläger alle immateriellen und materiellen Schäden aus dem Unfallereignis bis zu einem Haftungshöchstbetrag von 5 Mio EUR zu ersetzen. Den Gegenstandswert für das Verfahren hat der Senat auf 4 Mio EUR festgesetzt.
(OLG Celle, Urteil v. 10.5.2023, 14 U 56/21)
Hintergrund:
Das Urteil des OLG entspricht der Rechtsprechung des BGH. Auch der BGH zieht den Rahmen für die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs gemäß § 7 StVG sehr weit. So hat der BGH die Haftung des Halters eines am Straßenrand ordnungsgemäß abgestellten Anhängers (zur Besprechung) für den Fall angenommen, dass der Anhänger ohne Zutun des Halters durch fehlerhaftes Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers in Bewegung gesetzt wird und hierdurch Schäden verursacht werden. Das Maß der Verantwortlichkeit des Drittschädigers sei im Rahmen eines etwaigen Gesamtschuldnerausgleichs der Schädiger gemäß §§ 426, 254 Abs. 1 BGB, § 17 StVG zu berücksichtigen (BGH, Urteil v. 7.2.2023, VI ZR 87/22).
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