Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Gefährdungshaftung von "passiv" unfallbeteiligten Fahrzeugen.
Leitsatz (amtlich)
Die Gefährdungshaftung eines Fahrzeugs erfasst auch die Fälle, in denen das Fahrzeug "passiv" in einen Verkehrsunfall gerät und weitergehende Schäden an unbeteiligten Dritten verursacht (hier: Zweitanstoß nach Erstkollision im Verlauf des Schleudervorgangs des geschädigten Fahrzeugs).
Normenkette
StVG § 7 Abs. 1; VVG § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 12.04.2021; Aktenzeichen 1 O 206/20) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der Einzelrichterin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 12. April 2021 - 1 O 206/20 - abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte als Gesamtschuldnerin neben dem I. Versicherungsverein a.G. und der R. Versicherung AG verpflichtet ist, dem Kläger alle immateriellen und materiellen Schäden aus dem Unfall vom 11.08.2018 auf der BAB 20 zwischen L. und R. in Fahrtrichtung R., an dem das Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen ... beteiligt war, im Rahmen der Haftungshöchstsumme nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 StVG bis zu einem Betrag von 5 Mio. EUR zu ersetzen.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 24.501,51 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.10.2020 zu zahlen.
Im Übrigen wird die weitergehende Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen
Die Kosten des Rechtsstreits (beider Instanzen) trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 4.000.000,00 EUR.
Gründe
I. Der Kläger verlangt von der Beklagten die Feststellung der Haftung für einen Verkehrsunfall, der sich am 11. August 2018 in der Nähe von K. auf der BAB ... in Fahrtrichtung R. ereignete.
Der Kläger, ein zum Unfallzeitpunkt gesunder zehnjähriger Junge, saß angeschnallt im Fahrzeug seiner Mutter, die als Halterin ihr Fahrzeug VW Golf mit dem amtlichen Kennzeichen ... zum Unfallzeitpunkt steuerte, auf einem Kindersitz im linken Bereich der Fahrzeugrückbank. Vor dem klägerischen Fahrzeug fuhr der Beteiligte E. mit einem Fahrzeug Seat Ibiza, amtliches Kennzeichen ..., welches bei der Beklagten haftpflichtversichert ist. Beide Fahrzeuge befuhren die rechten Fahrspur und verlangsamten ihre Fahrt, als sich vor ihnen ein Stau aufbaute.
Von hinten kommend auf der Überholspur näherte sich das Fahrzeug Dodge Ram 1500 der Beteiligten B. mit dem amtlichen Kennzeichen. Die Beteiligte B., bei der nach dem Unfall eine erhebliche Alkoholisierung festgestellt worden war (AAK von 1,1 Promille), wechselte aus ungeklärtem Grund von der Überholspur mit ca. 120 km/h nach rechts und prallte ungebremst auf das klägerische Fahrzeug. Durch die Wucht des Aufpralls wurde dieses in das vor ihm fahrende Fahrzeug des Beteiligten E. geschleudert. Das Beklagtenfahrzeug wurde seinerseits ebenfalls gegen das voranfahrende Fahrzeug der Beteiligten K. geschoben. Insgesamt waren vier Fahrzeuge an dem Unfall beteiligt.
Durch den Unfall erlitt der Kläger schwere, lebensgefährliche Verletzungen. Es wurden u.a. ein offenes Schädelhirntrauma, Mittelgesichtsfrakturen und eine Hüftverletzung diagnostiziert. Der Kläger ist seit dem Unfall vollständig pflegebedürftig, woran sich aller Voraussicht nach für sein restliches Leben nichts ändern wird.
Die weiteren Unfallbeteiligten wurden ebenfalls - zum Teil schwer - verletzt. Die als Beifahrerin vorne sitzende Großmutter des Klägers und seine hinten rechts sitzende 13-jährige Schwester verstarben in Folge des Unfalls.
Die klägerische Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung und diejenige der Beteiligten B. erklärten eine gesamtschuldnerische Haftung für die Schäden des Klägers.
Mit seiner Klage begehrt der Kläger eine gleichlautende Erklärung von der Beklagten, die dies ablehnt. Die Parteien streiten darum, ob der zweite Aufprall des klägerischen Fahrzeugs auf das Beklagtenfahrzeug zu weiteren Verletzungen beim Kläger geführt hat und ob somit auch die Beklagte für die Unfallfolgen des Klägers einstandspflichtig ist.
Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen im Übrigen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
Das Landgericht hat die Klage ohne Beweisaufnahme abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Unfall sei für den Beteiligten E. ein unabwendbares Ereignis gem. § 17 Abs. 3 StVG gewesen. Das Fahrzeug sei bei einer wertenden Betrachtung nicht gem. § 7 StVG "bei Betrieb" gewesen. Allein die Tatsache, dass es ein Hindernis gebildet habe, reiche nicht aus, um eine Gefährdungshaftung anzunehmen. Weder sei...