Leitsatz (amtlich)
1. Auch bei einem berührungslosen Unfall können die Grundsätze zum Anscheinsbeweis Anwendung finden (ebenso OLG Schleswig, Beschluss vom 17. Februar 2022 - 7 U 144/21, SVR 2022, 302; entgegen OLG München, Urteil vom 7. Oktober 2016 - 10 U 767/16, Rn. 9, juris; OLG Hamm, Urteil vom 9. Mai 2023 - 7 U 17/23, Rn. 51, juris).
2. Gelingt es einem Verkehrsteilnehmer nicht, rechtzeitig auf eine wahrgenommene Gefahrenlage zu reagieren, und verhindert er lediglich durch einen vorherigen Sturz (hier: als Motorradfahrer) eine Kollision mit dem vorausfahrenden Kraftfahrzeug, spricht wie im Fall einer "Auffahrkollision" der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Hinterherfahrenden.
3. Wer an einer unübersichtlichen Engstelle vor einer Kurve ein Hindernis (hier: ein haltendes Müllfahrzeug) links umfährt, muss gemäß § 6 Satz 1 StVO den Gegenverkehr sichern und besonders vorsichtig prüfen, ob ein Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde.
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das am 22. Februar 2023 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 1a - Zivilkammer des Landgerichts Verden - 1a O 104/21 - wie folgt abgeändert:
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtlichen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, materiellen und immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 31. März 2021 auf der B. Straße in H. zu 40 % zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Dritte übergegangen ist oder noch übergeht.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 60 Prozent und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 40 Prozent.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckbaren Betrages leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 7.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagten zur Zahlung von materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall verpflichtet sind, bei dem er mit seinem Motorrad stürzte und verletzt wurde.
Der Kläger befuhr am 31. März 2021 mit seinem Motorrad in Begleitung seines Sohnes, dem Zeugen A., auf dessen Motorrad die B. Straße in Richtung H. Vor dem Kläger und seinem Sohn befuhr der Zeuge A1 mit seinem PKW die B. Straße in gleicher Richtung. Die aus Fahrtrichtung des Klägers gesehene Gegenfahrbahn, die die Beklagte zu 1. mit dem bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten Fahrzeug der Marke Mercedes befuhr, war im Kurvenverlauf durch einen Müllwagen blockiert, der zu diesem Zeitpunkt von Mitarbeitern des Abfallservice O. GmbH mit gelben Säcken beladen wurde. Die Beklagte zu 1. versuchte, an dem Müllwagen vorbei zu fahren, und wechselte hierzu auf die Fahrbahn des Klägers und des vor ihm fahrenden Zeugen A1. Der Zeuge A1 bremste sein Fahrzeug stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1., die sich noch auf der Fahrbahn des Zeugen befand, zu vermeiden. Auch der Kläger, dessen Motorrad über kein ABS verfügte, machte eine Vollbremsung, geriet dabei ins Rutschen und stürzte. Die Fahrzeuge des Klägers und des Zeugen A1 kollidierten nicht. Der hinter dem Kläger fahrende Zeuge A. konnte sein Motorrad abbremsen, ohne selbst zu stürzen. Die Beklagte zu 1. wendete ihr Fahrzeug bei der nächsten Gelegenheit und fuhr zur Unfallstelle zurück. Die zugelassene Höchstgeschwindigkeit beträgt am Unfallort 70 km/h. Der Kläger, der vom Unfallort mit dem Rettungshubschrauber ins Krankhaus transportiert wurde, erlitt durch den Sturz eine Schulterblattfraktur links, eine Lungenkontusion sowie eine Schürfwunde am linken Knie. Er war infolgedessen bis zum 25. Mai 2021 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 08. Juni 2021 forderte der Kläger die Beklagte zu 2. auf, ihre Haftung aus dem Unfallgeschehen vollständig dem Grunde nach anzuerkennen. Die Beklagte zu 2. lehnte jegliche Haftung ab.
Der Kläger hat behauptet, er habe zum Fahrzeug des Zeugen A1 einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten. Er sei vor dem Sturz nicht schneller als 70 km/h gefahren. Er sei mit seinem Motorrad gestürzt, weil die Beklagte zu 1. Anlass für seine und die Vollbremsung des Zeugen A1 gegeben habe. Der Kläger war der Ansicht, dass der Unfall für ihn - auch aufgrund des fehlenden ABS - unvermeidbar gewesen sei. Ferner sei sein Motorrad durch den Sturz beschädigt worden und dieser Sachschaden betrage 2.750,00 EUR. Darüber hinaus seien weitere Kosten für das außergerichtliche Schadensgutachten in Höhe von 698,95 EUR sowie eine Kostenpauschale von 25 EUR angefallen. Die Heilbehandlungen des Klägers seien noch nicht abgeschlossen, wie sich aus dem ärztlichen Attest vom 19. Mai 2021 erge...