Rz. 433

Nicht verfügbare Werke sind urheberrechtlich geschützte Werke, insbesondere Schriftwerke, die der Allgemeinheit auf keinem üblichen Vertriebsweg in einer vollständigen Fassung angeboten werden (§ 52b VGG).[638] Adressaten sind die Kulturerbe-Einrichtungen (§ 60d UrhG), denen es erlaubt wird, die nicht verfügbaren Werke aus ihrem Bestand zu vervielfältigen oder vervielfältigen zu lassen sowie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die öffentliche Zugänglichmachung darf nur auf nicht-kommerziellen Internetseiten erfolgen (§ 61d Abs. 1 S. 3 UrhG). Dies gilt allerdings nur, wenn keine Verwertungsgesellschaft infrage kommt, die diese Rechte für die jeweiligen Arten von Werken wahrnimmt und insoweit repräsentativ (§ 51b VGG) ist (§ 61d UrhG).

Im Gegensatz zu den verwaisten Werken, die regelmäßig auch nicht verfügbar sein werden, wird bei Ersteren der Urheber meistens aufzufinden sein. Für nicht verfügbare Werke, bei denen der Rechtsinhaber in der Regel nicht mehr an einer kommerziellen Verwertung interessiert ist, sollte eine pragmatische Lizenzlösung geschaffen werden. Damit wird eine ähnliche kulturpolitische Lösung verfolgt wie bei den verwaisten Werken, nämlich diese für die breite Öffentlichkeit weiterhin zugänglich zu halten. Da die Orphan-Works-Richtlinie einerseits keine Regelungen für vergriffene Werke vorsieht, andererseits Art. 5 (Ausnahmen und Beschränkungen) Harmonisierungsrichtlinie einen abschließenden Regelungskatalog vorgibt, kam eine Privilegierung vergriffener Werke als Schrankenregelung zunächst nicht infrage, was sich aber nun durch die Regelungen der Art. 8–10 DSM-RL, die durch §§ 61d ff. UrhG umgesetzt wurden, geändert hat.[639] Zudem sehen §§ 5152e VGG eine "Vermutung" (tatsächlich handelt es sich um eine Fiktion, da Rechte vielfach bereits eingeräumt wurden) der Rechtewahrnehmung vor, die sich gem. § 52a VGG auch auf Werke Außenstehender (§ 7a VGG), also auch auf solche Rechtinhaber beziehen, die kein Mitglied einer Verwertungsgesellschaft sind (kollektive Lizenzen Außenstehender, Extended Collective Licenses, ECL).

 

Rz. 434

Der Rechtsinhaber kann der Nutzung nicht verfügbarer Werke jederzeit gegenüber dem Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) widersprechen (§ 61d Abs. 2 UrhG). Dieses Widerspruchsrecht ist unbefristet und kann jederzeit erklärt werden. Allerdings hat der Widerspruch nur ex nunc-Wirkung, sodass die Nutzungen vor dem Widerspruch rechtmäßig sind. Widerspruchsadressat ist das EUIPO.[640]

 

Hinweis

Anders als bei §§ 51 Abs. 2 und § 52 Abs. 2 VGG – ein Widerspruchsrecht haben dort nur Außenstehende – steht das Widerspruchsrecht auch solchen Rechtsinhabern zu, die eine Verwertungsgesellschaft mit der Wahrnehmung ihrer Recht beauftragt haben.[641]

Die Kulturerbe-Einrichtung informiert während der gesamten Nutzungsdauer im Online-Portal des EUIPO über die betreffenden Werke, deren Nutzung und das Recht zum Widerspruch, wobei die öffentliche Zugänglichmachung erst erfolgen darf, wenn der Rechtsinhaber der Nutzung nicht innerhalb von sechs Monaten seit Beginn der Bekanntgabe der Information widersprochen hat (§ 61d Abs. 3 UrhG).

 

Rz. 435

Bei grenzüberschreitender Nutzung innerhalb der EU/EWR regelt § 61d Abs. 4 UrhG im Wege der Fiktion, dass auch Angehörige anderer EU-Staaten auf die Inhalte zugreifen dürfen. Denn wie auch bei § 20a Abs. 2 S. 2 sowie § 60a Abs. 3a UrhG gilt das Ursprungslandprinzip. Maßgeblich für das anwendbare Recht ist der Sitz der Kulturerbe-Einrichtung. Liegt diese in Deutschland, so gilt auch für den EU-Ausländer deutsches Recht. Auf ein Geoblocking können die Kulturerbe-Einrichtungen somit verzichten.[642]

 

Hinweis

Eine Kulturerbe-Einrichtung kann sich allerdings nicht auf eine gesetzliche Erlaubnis gem. § 61d Abs. 1 UrhG berufen, wenn sie Werkreihen nutzen möchte, die überwiegend Werke aus Drittstaaten enthalten, also solcher Staaten, die kein Mitglied der EU bzw. EWR sind (§ 61d Abs. 4 S. 2 UrhG, § 52c VGG). Werkreihen sind Werke, die in einem inhaltlichen Zusammenhang miteinander stehen, z.B. Zeitschriften oder Bände eines Lexikons.[643]

 

Rz. 436

§ 61e UrhG enthält eine Verordnungsermächtigung zur Konkretisierung solcher Begriffe wie Nicht-Verfügbarkeit und Repräsentativität von Verwertungsgesellschaften.

 

Rz. 437

Um ihrer Informationspflichten nachzukommen, erlaubt § 61f UrhG die Kenntlichmachung der maßgeblichen Werke, etwa durch Thumbnails bei Fotos oder eine kurze Musiksequenz eines Musikstücks. Wird von solchen Maßnahmen Gebrauch gemacht, die Urheberrechte tangieren, besteht die Pflicht zu Quellenangabe (§ 63 Abs. 1 und 2 UrhG).

 

Rz. 438

Zum Schutz der Kulturerbe-Einrichtungen bringt § 61g UrhG unter Bezugnahme auf § 60g UrhG zum Ausdruck, dass sich der Rechtsinhaber nicht auf von §§ 61d und 61f UrhG abweichende Vereinbarungen berufen kann.

 

Hinweis

Ein Widerspruch gem. § 61d Abs. 2 UrhG ist keine "Vereinbarung" im Sinne dieser Vorschrift, woraus folgt, dass im Fall eines Widerspruchs durch den Rechtsinhaber die Kulturerbe-Einrichtung das b...

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