Rz. 93
Die von § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG ebenfalls erfassten Werke der angewandten Kunst werfen in mehrerer Hinsicht Probleme auf. Zunächst ist diese Werkkategorie von der so genannten zweckfreien bildenden Kunst abzugrenzen, sodann ist die Grenzziehung zu dem Designschutz von Relevanz. Unter den Schlagworten "Kunstgewerbe" und "Design" werden zwei wichtige Anwendungsbereiche dieser Kategorie deutlich.
Rz. 94
Der BGH hat in einer aktuellen Entscheidung (Geburtstagszug) die Anforderungen an die Gestaltungshöhe für Werke der angewandten Kunst gem. § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG denen der zweckfreien Kunst, Musik und Literatur gleichgestellt und somit auch für die angewandte Kunst die "kleine Münze" als Mindestanforderung an die Gestaltungshöhe angenommen, was eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des BGH darstellt. Bisher hat der BGH in Abgrenzung zum Designschutz verlangt, dass die Gestaltungshöhe, also die schöpferische Leistung, über dem Durchschnitt kreativen Schaffens liegen müsse. Begründet wurde dieses Urteil damit, dass nach der Reform des Designschutzes im Jahre 2004 das Design nicht mehr als "Unterbau" des Urheberrechts angesehen werde, der Designschutz seitdem neben dem urheberrechtlichen Werkschutz zur Anwendung gelange, also grds. ein gleichwertiges Aliud sei.
Rz. 95
In der zuvor genannten BGH-Entscheidung geht es u.a. um den nachstehen abgebildeten Entwurf eines "Geburtstagszugs", den die Klägerin als selbstständige Designerin entworfen hat. Die Klägerin macht in diesem Verfahren Ansprüche auf Vertragsanpassung in der Weise geltend, dass gem. §§ 32 und 32a UrhG (früher Bestsellerklausel) eine Nachzahlung für den sehr erfolgreichen Verkauf des aufgrund des Entwurfes der Klägerin umgesetzten Spielzeugs erfolgt. Die Zahlung für den Entwurf war mit ca. 1.100 EUR sicherlich nicht gerade hoch angesetzt. Die Berufung auf das Designschutzrecht hätte der Klägerin deshalb nicht geholfen, weil dort eine Vertragsanpassung im Sinne einer Nachzahlung von vornherein nicht vorgesehen ist. Die Werkart Darstellungen technischer Art, insbesondere eine Zeichnung gem. § 2 Abs. 1 Nr. 7 UrhG, führt ebenfalls nicht zum Ziel, weil damit nur diese Darstellung selbst, hier also die Zeichnung, nicht aber deren Umsetzung (als Spielzeug) erfasst ist. Die Abbildung des Entwurfs macht aber deutlich, dass gestalterische Spielräume, die also über das Funktionale der Zeichnung hinausgehen, nicht gerade ins Auge springen.
Rz. 96
Die Klägerin muss somit zum Werkbegriff dezidiert vortragen. Da es in diesem Fall nicht um einen Verletzungsprozess geht, sondern eine erhöhte nachträgliche Vergütung gem. §§ 32 und 32a UrhG eingefordert wird, also Ansprüche quasi im "Innenverhältnis" zum Auftraggeber im Raum stehen, kann der Vortrag sich darauf beschränken, darzustellen, was denn an diesem "Geburtstagszug" nicht rein funktional bedingt ist, wo also die schöpferischen Gestaltungsspielräume liegen.
Rz. 97
Schwieriger wird der Klagevortrag dann, wenn dem Beklagten die Rechtsverletzung, etwa als unfreie Bearbeitung gem. § 23 UrhG vorgeworfen wird. Dann muss nicht nur die schöpferische Leistung vorgetragen werden, sondern auch, worin die Übernahme gerade dieser "Spielräume", die also über das Funktionale hinausgehen, sich in der unfreien Bearbeitung wiederfinden. Zu letzterem hat der BGH ausgeführt, dass zwar eine Urheberrechtsschutz begründende, gleichwohl aber geringe Gestaltungshöhe zu einem entsprechend engen Schutzbereich des betreffenden Werks führe.
Rz. 98
Das aber ist der entscheidende Punkt. Der Schutz mag nun dem Grunde nach eher als nach der alten Rechtsprechung gegeben sein. Ob daraus aber tatsächlich ein Anspruch auf Unterlassung etc. gegen den Verletzer folgt, ist deshalb fraglich, weil schon jede geringste Abweichung von der Vorlage keinen Anspruch mehr rechtfertigen wird.
Rz. 99
Nach der nunmehr geltenden Gesetzeslage wird zur Abgrenzung zwischen Urheberrecht und Designrecht (seit dem 1.1.2014) nicht mehr auf die unterschiedlichen Anforderungen an die Gestaltungshöhe Bezug genommen, sondern auf die Marketingfunktion des Designs abgestellt. Danach lässt sich der Geschmacksmusterschutz nicht mehr als ein dem Urheberrecht wesensgleicher "Unterbau" der angewandten Kunst auffassen, sondern tritt als eigenständige Rechtskategorie neben das Urheberrecht (design approach). Mit dieser neuen Aufgabenstellung ändern sich auch die Schutzinhalte des Designschutzgesetzes in der Weise, dass primär nicht mehr auf den Gehalt im Sinne einer künstlerischen Aussage, sondern auf die nach außen in Erscheinung tretende Formgebung abgestellt wird.
Rz. 100
Die bisher ergangene Rechtsprechung hat dies noch nicht berücksichtigt. Die häufigen Versuche, für vergleichsweise einfache Gestaltungen einen Schutz als Werke der angewandten Kunst zu erlangen, hatten bisher kaum zum Erfolg geführt. Selbst wenn es bei elektrischen Gitarren gelungen war, auf der Grundlage der vorgegebenen Gestaltungsformen ein zeitloses Design sehr hoher Qualität zu schaf...