Rz. 363
Im Hinblick auf Gerichte, Behörden, behinderte Menschen, Kirchen und Schulen regeln die §§ 45– 47 UrhG Schranken, die aus deren jeweiligen öffentlichen bzw. sozialem Auftrag folgen.
Rz. 364
§ 45 UrhG ordnet die Zulässigkeit der Fertigung oder des Fertigenlassens einzelner Vervielfältigungsstücke von Werken zur Verwendung in Verfahren vor einem Gericht, einem Schiedsgericht oder einer Behörde an, sofern dies für Zwecke der Rechtspflege oder der öffentlichen Sicherheit geschieht (Abs. 1 und 2). Unter den gleichen Voraussetzungen wie bei der Vervielfältigung ist auch die Verbreitung, öffentliche Ausstellung und öffentliche Wiedergabe der Werke zulässig (Abs. 3).
Rz. 365
Am 30.9.2016 trat der Marrakesch-Vertrag (Marrakesh Treaty to Improve Access to Published Works for Persons who are Blind, Visually Impaired, or otherwise Print Disabled) über urheberrechtliche Schrankenregelungen für Blinde und Sehbehinderte in Kraft. Seit 2012 wurde über dieses internationale Abkommen verhandelt, bevor er auf der Konferenz in Marokko im Juni 2013 beschlossen wurde. Das neue WIPO-Abkommen soll die Umwandlung urheberrechtlich geschützter Werke für Sehbehinderte erleichtern, indem es alle Unterzeichner verpflichtet, Schrankenregelungen in ihren Urheberrechten vorzusehen, und es Blindenorganisationen erlaubt, künftig Werke in für Blinde und Sehbehinderte zugänglichen Formaten auch über Grenzen hinweg weiterzugeben. Im Gegenzug kann der Gesetzgeber eine Pauschalvergütung vorsehen. Kanada hat als 20. Nation am 30.6.2016 den Vertrag ragifiziert. Die Europäische Union hatte den Vertrag im April 2014 unterzeichnet. Die Umsetzung auf europäischer Ebene erfolgte durch die Marrakesch-Rl sowie die Marrakesch-VO EU 2017/1563.
Die Marrakesch-VO stellt Regeln darüber auf, wie Werke oder sonstige Schutzgegenstände in Vervielfältigungsstücken in einem barrierefreien Format zwischen der EU und Nicht-EU-Staaten, die Vertragsparteien des Marrakesch-Vertrags sind, zugunsten blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen ohne Erlaubnis des Urhebers geteilt werden.
Die Umsetzung der Marrakesch-RL in deutsches Recht erfolgte durch §§ 45a (Menschen mit Behinderung), 45b (Menschen mit einer Seh- und Lesebehinderung), 45c (befugte Stellen; Vergütung; Verordnungsermächtigung) und 45d (Gesetzlich erlaubte Nutzung und vertragliche Nutzungsbefugnis) UrhG.
Rz. 366
§ 45a UrhG regelt eine Schranke zugunsten von Menschen mit Behinderung. Grundlage dafür ist Art. 5 Abs. 3b der Harmonisierungsrichtlinie 2001/29/EG vom 22.5.2001, die die (mögliche) Diskriminierung behinderter Menschen vermeiden soll. Abs. 1 dieser Bestimmung erlaubt, Vervielfältigungen vorzunehmen, die das Werk oder den Schutzgegenstand in eine andere Wahrnehmungsform übertragen und dadurch dem Behinderten einen Zugang ermöglichen. Für Blinde und Sehbehinderte ist damit die Übertragung in Blindenschrift erfasst. Für die Vervielfältigung und Verbreitung ist dem Urheber (außer bei der Herstellung lediglich einzelner Vervielfältigungsstücke) eine Vergütung zu zahlen, die nur durch eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden kann (Abs. 2). Für die Nutzung von Sprachwerken und grafischen Aufzeichnungen von Werken der Musik zugunsten von Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung gelten §§ 45b–45d UrhG (Abs. 3).
Hinweis
Aufgrund dieses Verweises verbleiben für den Anwendungsbereich des § 45a UrhG für Menschen mit Seh- und Lesebehinderung nur noch Filmwerke. Allerdings erfasst diese Norm generell auch andere als Seh- oder Lesehinderungen, z.B. Hörstörungen und Taubheit.
Rz. 367
§ 45b Abs. 1 UrhG regelt zugunsten von Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung, dass für veröffentlichte Sprachwerke, die als Text oder im Audioformat vorliegen, sowie grafische Aufzeichnungen von Werken der Musik die Vervielfältigung (auch Vervielfältigen lassen) zum eigenen Gebrauch zum Zweck der Umwandlung in ein barrierefreies Format zulässig ist. Nicht erlaubt ist die Verbreitung und öffentliche Wiedergabe. Die Vervielfältigung darf nur zum Zweck der Umwandlung erfolgen, nicht aber eine 1:1 Kopie einer bereits barrierefreien Ausgabe.
Rz. 368
Sprachwerke sind Werke in Form eines Buchs, einer Zeitung, einer Zeitschrift, eines Magazins oder andere Schriftstücke, Notationen einschließlich Notenblättern und dazugehörige Illustrationen in jeder Medienform, auch im Audioformat wie Hörbüchern und in digitaler Form (Art. 1 Nr. 1 Marrakesch-RL).
Rz. 369
Das barrierefreie Format ist in Art. 2 Nr. 3 Marrakesch-RL wie folgt definiert:
Vervielfältigungsstücke eines Werkes in alternativer Weise oder alternativer Form, die einer begünstigten Person Zugang zu dem Werk gibt oder die es einer solchen Person ermöglicht, sich einen genauso leichten und komfortablen Zugang zu verschaffen wie eine Person …ohne Beeinträchtigung oder Behinderung.
Beispiele sind Braille-Schrift, Großdruck, angepasste E-Bücher, Hörbücher und Hörfunksendungen. Wer Menschen mit einer Seh- und Lesebehinderung s...