Blinde Menschen haben vor Gericht Anspruch auf Audiodateien

Eine blinde Prozesspartei hat im Zivilprozess Anspruch auf barrierefreie Zugänglichmachung des Prozessstoffes. Dazu gehört auch die Zurverfügungstellung der Klageschrift und anderer Prozessunterlagen in Form von Audiodateien.

Fehlende Sehkraft kann für Beteiligte eines Gerichtsverfahrens ein erhebliches Handicap darstellen. Nach einer Entscheidung des LG München umfasst das Recht auf barrierefreien Zugang zu Gerichten auch den Anspruch blinder Prozessbeteiligter, die maßgeblichen Verfahrensunterlagen in Form von Audiodateien zur Verfügung gestellt zu bekommen.

Antrag auf barrierefreien Zugang zu Gerichtsdokumenten

Das LG München hatte über die sofortige Beschwerde einer nahezu vollständig erblindeten Beklagten gegen einen Beschluss des AG zu entscheiden, mit dem dieses ihre Anträge auf barrierefreie Zugänglichmachung von Schriftsätzen abgelehnt hatte.

Beklagte fordert Zurverfügungstellung einer Audiodatei

In dem zugrunde liegenden Verfahren nahm die Klägerin als Vermieterin die Beklagte auf Räumung und Herausgabe ihrer Wohnung in Anspruch. Vorausgegangen waren eine Kündigung wegen Eigenbedarfs sowie zwei fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigungen wegen Zahlungsverzugs. Die der Brailleschrift nicht mächtige Beklagte hatte mehrfach beantragt, ihr die Schriftsätze des gerichtlichen Verfahrens barrierefrei als Audiodatei zur Verfügung zu stellen.

Erforderlichkeitskriterium des BVerfG

Das AG lehnte den Antrag unter Berufung auf die Rechtsprechung des BVerfG ab. Dieses hatte im Jahr 2014 entschieden, dass bei Gestaltung und Auslegung der Verfahrensordnungen der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung Rechnung zu tragen sei.

  • Ihre Teilhabemöglichkeit am Verfahren müsse der einer nicht behinderten Partei gleichberechtigt sein.
  • Allerdings muss nach der Entscheidung des BVerfG die vom Betroffenen gewünschte Art der Zugänglichmachung zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich sein.
  • Eine sehbehinderte Partei darf danach auf eine Vermittlung des Prozessstoffes durch ihren Rechtsanwalt verwiesen werden, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Vermittlung durch den Rechtsanwalt der unmittelbaren Zugänglichmachung nicht gleichwertig ist (BVerfG, Beschluss v. 10.10.2014, 1 BvR 856/13).

AG hält Vermittlung des Prozessstoffes durch Anwalt für ausreichend

Unter Anwendung der vom BVerfG aufgestellten Grundsätze kam das AG zu dem Ergebnis, dass die Klage auf Räumung und Herausgabe der Wohnung aufgrund einer Eigenbedarfskündigung sowie zweier Kündigungen wegen Zahlungsverzugs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach gelagert und für die Beklagte über ihren Anwalt gut zu vermitteln sei. Eine Stellungnahme sowohl zum Eigenbedarf als auch zum behaupteten Zahlungsverzug sei ihr mit Hilfe ihres Anwalts ohne weiteres möglich. Die Zurverfügungstellung einer Audiodatei sei hierfür nicht erforderlich.

Anspruch auf Zugänglichmachung sämtlicher Gerichtsdokumente

Nach der Entscheidung des LG war die sofortige Beschwerde gegen die ablehnende Entscheidung des AG begründet. Gemäß § 191a Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 GVG in Verbindung mit § 4 ZMV (Zugänglichmachungsverordnung) habe eine blinde Partei Anspruch auf barrierefreien Zugang zu sämtlichen Schriftsätzen und weiteren Dokumenten eines gerichtlichen Verfahrens. Der barrierefreie Zugang zu den Gerichten sei eine zentrale Bedingung für die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Gemäß § 2 ZMV seien alle gerichtlichen Dokumente, die der betroffenen Person zuzustellen oder formlos bekanntzugeben sind, vom Anspruch auf Zugänglichmachung erfasst.

Audiodatei als barrierefreier Zugang der Wahl

Soweit nach der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2014 der Anspruch auf barrierefreien Zugang sich lediglich auf solche Dokumente beziehe, die für die Wahrnehmung der Rechte im Verfahren erforderlich sind, findet diese Rechtsprechung nach Auffassung des LG auf die zum 1.1.2018 in Kraft getretene aktuelle Fassung des § 191a GVG keine Anwendung mehr. Gemäß § 191a Abs. 1 Satz 2 GVG könne eine blinde oder sehbehinderte Person die barrierefreie Zugänglichmachung von Dokumenten und Schriftsätzen in einem gerichtlichen Verfahren nach Maßgabe der ZMV verlangen, ohne dass es der Prüfung einer besonderen Erforderlichkeit bedarf.

Erforderlichkeitskriterium des BVerfG wäre erfüllt

Nach Einschätzung des LG ist die vom BVerfG vorausgesetzte Erforderlichkeit im konkreten Fall im Übrigen gegeben. Das anhängige Verfahren sei in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keineswegs so einfach gelagert, wie vom AG angenommen. Die Klägerin stütze den klageweise geltend gemachten Räumungsanspruch auf verschiedene Rechtsgründe, nämlich eine Eigenbedarfskündigung sowie zweifachen Zahlungsverzug. Der Beklagten müsse die Möglichkeit gegeben werden, sich selbst und gegebenenfalls mehrfach mit den entsprechenden Unterlagen auseinanderzusetzen. Eine einmalige Verlesung der Unterlagen durch ihren Anwalt reiche für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Streitstoff nicht aus. Eine einer sehenden Person gleichwertige Auseinandersetzung mit der Klageschrift sei der Beklagten nur möglich, wenn ihr diese als Audiodatei zur Verfügung gestellt werde.

Blinde Beklagte hat Anspruch auf Audiodatei

Im Ergebnis hatte die sofortige Beschwerde damit Erfolg. Die Beklagte hat Anspruch auf Zurverfügungstellung der Klageschrift in Form einer Audiodatei.

(LG München I, Beschluss v. 12.9.2023, 14 T 9699/23)


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