Rz. 83
Dem Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB kommt in der Praxis eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch bewirkt, dass bestimmte Geschenke bzw. deren Wert dem Nachlass wieder hinzugerechnet werden, so dass sich ein fiktiver Nachlass ergibt, aus dem sich der Pflichtteilsergänzungsanspruch ermittelt. Subsidiär haftet insoweit gemäß § 2329 BGB auch der Beschenkte.
1. Zielsetzung und Durchführung der Pflichtteilsergänzung
Rz. 84
Als Ausdruck einer über den Tod hinausgehenden Fürsorgepflicht des Erblassers für seine nächsten Angehörigen soll durch das Pflichtteilsrecht eine gesetzlich normierte Mindestteilhabe am Vermögen des Erblassers gesichert werden. Wäre der geschützte Personenkreis auf den aktuellen Bestand des Nachlasses im Zeitpunkt des Erbfalls angewiesen, könnten derartige Pflichtteilsansprüche durch lebzeitige Vermögensverschiebungen des Erblassers jederzeit umgangen werden. Insoweit zielt der Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB auf eine Beteiligung nicht nur am realen Nachlass, sondern im zeitlich festgelegten Rahmen am wirtschaftlichen Wert des lebzeitigen Vermögens ab.
Rz. 85
Um eine solche Mindestbeteiligung zu gewährleisten, partizipieren die Pflichtteilsberechtigten rechnerisch über den realen Nachlass hinaus auch an den unentgeltlichen Vermögensverfügungen des Erblassers aus den letzten zehn Jahren vor dem Erbfall, wobei die Zehn-Jahres-Frist bei Verfügungen an den Ehegatten erst mit Beendigung der Ehe zu laufen beginnt (§ 2325 Abs. 3 BGB).
Rz. 86
Beispiel
Der Nachlass des nicht verheirateten Erblassers A beläuft sich im Erbzeitpunkt auf 800.000 EUR. Durch testamentarische Verfügung hat er B eingesetzt. Zu Lebzeiten hat A seinem Freund C kurz vor seinem Tod 200.000 EUR geschenkt. Gesetzliche Erben 1. Ordnung wären die leiblichen Kinder D und E des A. Der ordentliche Pflichtteil der beiden Kinder beläuft sich jeweils auf 200.000 EUR (¼ von 800.000 EUR). Unter Hinzurechnung der Schenkung an C ergibt sich ein fiktiver Gesamtnachlass in Höhe von 1.000.000 EUR. Aus diesem würde sich ein Gesamtpflichtteil von jeweils 250.000 EUR für D und E ergeben. Beiden steht somit die Differenz zwischen dem ordentlichen Pflichtteil und dem fiktiven Gesamtpflichtteil zu. Sie haben gegen B einen Pflichtteilsergänzungsanspruch von jeweils 50.000 EUR.
Rz. 87
Inhaber eines solchen Anspruchs kann nur der Kreis der Pflichtteilsberechtigten (§ 2303 BGB) sein. Während der ordentliche Pflichtteilsanspruch mit Ausnahme des Zusatzpflichtteils nach § 2305 BGB nur dem enterbten Pflichtteilsberechtigten zusteht, kann Inhaber eines Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB auch jemand sein, der nicht von der Erbfolge ausgeschlossen wurde.
Rz. 88
Die beiden Ergänzungsansprüche aus §§ 2325 und 2329 BGB unterscheiden sich nach Ansicht des OLG Brandenburg durch Art und Umfang der Haftung. Die Haftung des Beschenkten setze da ein, wo die Zahlungsverpflichtung des Erben aufhört und der Nachlass zur Befriedigung der Ergänzungsberechtigten nicht ausreicht. Der Ergänzungsanspruch des § 2329 BGB sei generell nur bei Geldgeschenken oder bei bereicherungsrechtlicher Werthaltung auf Zahlung gerichtet. Bei anderen Geschenken sei er durch Klage auf Duldung der Zwangsvollstreckung in den geschenkten Gegenstand in Höhe des zu bezifferten Fehlbetrages durchzusetzen.
2. Die Theorie der Doppelberechtigung
a) Einführung
Rz. 89
Umstritten war bisher, ob für die Bemessung eines solchen Pflichtteilsergänzungsanspruchs auch dann unentgeltliche Verfügungen des Erblassers innerhalb der Zehn-Jahresfrist heranzuziehen sind, wenn der Pflichtteilsberechtigte im Zeitpunkt der Verfügung noch nicht zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehört hat. Dies kann darin begründet liegen, dass der im Erbfall pflichtteilsberechtigte Ehegatte im Zeitpunkt der unentgeltlichen Verfügung noch nicht mit dem Erblasser verheiratet war. Dies könnte aber auch Kinder betreffen, die im Zeitpunkt der Verfügung noch nicht geboren oder adoptiert waren.
b) Rechtsprechung des BGH
Rz. 90
Der BGH hat bis 2012 die Auffassung vertreten, dass Voraussetzung für den Pflichtteilergänzungsanspruch der Umstand war, dass die Pflichtteilsberechtigung sowohl im Zeitpunkt des Erbfalls als auch zum Zeitpunkt der Schenkung bestanden hat (Theorie der Doppelberechtigung).
Rz. 91
Diese Rechtsprechung hat der BGH mit seiner Entscheidung vom 23.5.2012 (Az. IV ZR 250/11) aufgegeben.
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 Abs. 1 BGB setzt nicht mehr voraus, dass die Pflichtteilsberechtigung bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestanden hat (Abkehr von den Senatsurteilen vom 21.6.1972 und vom 25.6.1997).
Für den Pflichtteilsergänzungsanspruch kommt es alleine auf die Pflichtteilsberechtigung im Zeitpunkt des Erbfalls an. Er begründet dies u.a. damit, dass dem Wortlaut des § 2325 Abs. 1 BGB nicht zu entnehmen sei, dass es für die Pflichtteilsberechtigung auch auf den Zeitpunkt der Schenkung ankomme. Ferner stellt er auf Sinn und Zweck des Pflichtteilsergänzungsanspruchs ab. Er führt hierzu...