Rz. 9

Doch ab wann haften die Erben unbeschränkt? Wenngleich die Universalsukzession ipso iure mit dem Tod des Erblassers im Wege des Von-Selbst-Erwerbs eintritt, so tritt mit diesem Zeitpunkt nicht schon die unbeschränkte Haftung ein. Diese "Nichtbeschränkung" der Haftung auf den Nachlass hat ihren Grund darin, dass nach deutschem Erbrecht, Nachlass und Eigenvermögen miteinander verschmelzen, ohne dass es zuvor zwingend vorgesehen wäre, die Nachlassverbindlichkeiten – etwa von einem externen Verwalter – zu erfüllen, und ohne dass zwingend der Nachlass inventarisiert werden müsste, um den Gläubigern die Haftungsmasse, auf die sie verwiesen würden, aufzuzeigen.[7] Ist dies geschehen, können die Nachlassgläubiger nicht mehr unterscheiden, welcher Vermögensgegenstand zu welcher Haftungsmasse gehört. Sie wissen – letztlich unverschuldet – nicht mehr, was ihre eigentliche Haftungsmasse ist, auf die sie zugreifen können. Daher gewährt das Gesetz ihnen die Möglichkeit, auf Nachlass und/oder Eigenvermögen zuzugreifen, da (zunächst) keine gegenständlich getrennte Haftung der Vermögensmassen (Nachlass/Eigenvermögen) mehr denkbar ist. Dies ist der gesetzliche Regelfall, der durch den Vonselbsterwerb nach der Universalsukzession eintritt.[8]

 

Hinweis

Kritiker der Regelung zur Erbenhaftung nach dem BGB verweisen oft auf andere Rechtsordnungen, die ipso iure eine Haftungsbegrenzung auf den Nachlass vorsehen. So sehr diese Überlegungen de lege ferenda überdacht werden könnten, so muss man sich doch vor Augen führen, was letztlich all diesen Regelungen zugrunde liegt, und sich fragen, ob man das wirklich will:

Die Problematik der unbeschränkten Haftung stellt sich nur dann nicht, wenn die Vermögensmassen von Erblasser (Nachlass) und Erbe(n) (Eigenvermögen) zumindest während der gesamten Nachlassabwicklung dauerhaft getrennte Vermögensmassen blieben. Dies setzt als Minimum eine zwingende "Inventarisierung" des Nachlasses voraus und in der Regel auch eine Exekutive, die die Nachlassabwicklung, zumindest eine Vorab-Schuldenbereinigung vornimmt.

Als Beispiel könnte man hier das Recht der ehemaligen DDR nennen. Das dortige ZGB sah Folgendes vor: Gemäß § 409 ZGB hatte der Erbe die Nachlassverbindlichkeiten zwar nur mit dem Nachlass zu erfüllen. Er musste sich aber an die in § 410 ZGB festgelegte Reihenfolge halten. Vorab traf ihn gemäß § 416 f. ZGB in jedem Fall die Pflicht, ein ordnungsgemäßes Nachlassverzeichnis zu erstellen, sonst drohte gemäß §§ 411 Abs. 4, 418 ZGB der Verlust der Haftungsbeschränkung auf den Nachlass. Falls die Erstellung eines solchen Nachlassverzeichnisses zum Zwecke des Gläubigerschutzes nicht als ausreichend erachtet wurde, so wurde gemäß § 420 ZGB Nachlassverwaltung angeordnet.

Eine ähnliche Regelung sieht das österreichische Verlassenschaftsverfahren vor: Vor der Einantwortung des Nachlasses an die Erben ist zwingend ein förmliches Verfahren mit einer "Exekutive", der Gerichtskommissär, zwischengeschaltet, der die Erben darauf hinweist, dass sie eine unbedingte oder eine bedingte Erbantrittserklärung abgeben können und dass letztere eine Haftungsbeschränkung auf den Nachlass nach sich zieht, für die aber eine Inventarisierung erforderlich ist.

 

Rz. 10

Wer kritisiert, dass das BGB sich für einen anderen Weg entschieden hat, muss bedenken, dass all diese Dinge auch nach deutschem Recht in Betracht kommen – eine Inventarisierung nach §§ 1993 ff. BGB, ein Nachlassverwalter nach §§ 1975 ff. BGB. Wer beklagt, dass dies Geld und Zeit kostet, muss einräumen, dass dies auch bei den anderen Rechtsordnungen der Fall ist – nur, dass das deutsche Recht dies fakultativ vorsieht und den Erben nicht zwingt. Genauso gut darf er diesen Aufwand und die damit verbundenen Kosten vermeiden, muss dafür aber den Preis der unbeschränkten Haftung in Kauf nehmen. Dies mag auch von Vorteil sein: Vielleicht macht es dem Erben nichts, sein Reihenhaus zum Zwecke der Befriedigung der Nachlassgläubiger zu versilbern, wenn er dafür den seit Generationen bestehenden Familiensitz behalten kann.

 

Rz. 11

Die Ratio der unbeschränkten Haftung fußt also in der Verschmelzung der Vermögensmassen. Sobald diese eintritt, tritt auch die unbeschränkte Haftung ein. Dies ist nicht schon mit dem Tod der Fall, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt, der sich beim Alleinerben und bei Miterben voneinander unterscheidet:

 

Hinweis

Die Haftungsbeschränkungsregeln gelten grundsätzlich für Alleinerben und Miterben. Für Miterben gelten aber Besonderheiten (siehe § 14).

[7] Bartsch, ZErb 2010, 345, 346.
[8] Siehe auch Baumann, ErbR 2020, 300.

1. Nachlass und Eigenvermögen: Vor Annahme der Erbschaft getrennte Vermögensmassen

 

Rz. 12

Mit dem Erbfall geht der Nachlass als Gesamtheit auf den oder die Erben über, bleibt aber einstweilen noch eine vom privaten Eigenvermögen des Erben getrennte Vermögensmasse. Dies zeigt sich mittelbar in § 1958 BGB: Bis zur Annahme der Erbschaft kommt jedenfalls eine Inanspruchnahme des Erben nicht in Betracht.

2. Alleinerbe: Verschmelzung von Nachlass und Eigenvermögen mit der Annahme

 

Rz. 13

Beim Alleinerben verschmelzen die beiden Vermögensmassen Nachlass und Eigenvermögen im Zeitpunkt der Annahme der...

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