Dr. iur. Olaf Lampke, Manfred Ehlers
Rz. 37
Die Abmahnung als Voraussetzung einer Kündigung macht nur Sinn, wenn sie dazu dient, den Arbeitnehmer zu vertragstreuem Verhalten anzuhalten. Bei einem unbeeinflussbaren Schicksalsschlag, z.B. einer lang anhaltenden Erkrankung, kommt daher eine Abmahnung regelmäßig nicht in Betracht. Bei häufigen krankheitsbedingten Fehlzeiten kann zwar auf den gefährdeten Bestand des Arbeitsverhältnisses aufmerksam gemacht werden, es entfällt aber die Rüge eines vorwerfbaren Pflichtenverstoßes.
Rz. 38
Eine Abmahnung mit der Verbindung von Rüge- und Warnfunktion muss daher regelmäßig dem Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung vorausgehen. Die herkömmliche Unterscheidung zwischen Störungen im Leistungsbereich einerseits und Störungen im Vertrauensbereich andererseits, die auch ohne vorherige Abmahnung zur Kündigung berechtigen, ist nicht ergiebig und eher irreführend: Die nachlässige Handhabung von Kassenanweisungen berührt den Vertrauensbereich, kann aber zugleich auch als Verletzung der Hauptleistungspflicht gesehen werden und deshalb eine vorherige Abmahnung notwendig machen (vgl. BAG v. 7.9.1988, NZA 1989, 272, BAG – 5 AZR 625/87= DB 1989, 284). Auch bei Störungen im Vertrauensbereich kann daher eine vorherige Abmahnung erforderlich sein, wenn es sich um ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers handelt und die Wiederherstellung des Vertrauens erwartet werden kann (BAG v. 4.6.1997 – 2 AZR 526/96, NZA 1997, 1281 = DB 1997, 1240).
Rz. 39
Der 2. Senat des BAG hatte am 4.6.1997 folgenden Fall zu entscheiden:
Rz. 40
Ein Zugführer der Berliner U-Bahn verursachte nachmittags um 16.10 Uhr mit seinem Privat-Pkw einen Unfall. Die Blutprobe ergab 2,73 ‰. Er war wegen alkoholbedingter Unachtsamkeit auf einen vor einer Kreuzung wartenden Pkw aufgefahren und hatte einen Sachschaden von 800,00 DM verursacht. Per Strafbefehl wurde gegen ihn eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 70,00 DM verhängt und der Führerschein für die Dauer von mindestens zehn Monaten entzogen. Bei seiner Anhörung gab der klagende Arbeitnehmer an, er habe tags zuvor seinen Geburtstag nachgefeiert und am Unfalltag an einem Frühschoppen teilgenommen, nach dessen Beendigung er einen Freund habe nach Hause fahren wollen.
Rz. 41
Die Arbeitgeberin kündigte fristlos, hilfsweise fristgemäß, weil sich der Arbeitnehmer aufgrund der Alkoholfahrt als unzuverlässig zum Führen von Fahrzeugen im öffentlichen Nahverkehr erwiesen habe.
Rz. 42
Das BAG hat wie das LAG die Kündigung für unwirksam angesehen, weil eine vorherige Abmahnung erforderlich gewesen sei. Das Abmahnungserfordernis ist auch bei Störungen im Vertrauensbereich zu prüfen. In teilweiser Abkehr von seiner früheren Rspr. stellt das BAG seit dieser Entscheidung nunmehr klar, dass sich die Frage einer Abmahnung bei jeder Kündigung stellt, die wegen eines steuerbaren Verhaltens des Arbeitnehmers ausgesprochen wird. Abzumahnen ist auch dann, wenn die primäre Störquelle in der Person des Arbeitnehmers angesiedelt ist, dieser Kündigungsgrund aber durch ein steuerbares Verhalten wieder beseitigt werden kann, wenn also mit einer Wiederherstellung des Vertrauens gerechnet werden kann (vgl. u.a. BAG v. 11.3.1999 – 2 AZR 507/98, NZA 1999, 587 = DB 1999, 1324; BAG v. 10.2.1999 – 2 ABR 31/98, NZA 1999, 708 = DB 1999, 1121).
Rz. 43
Eine Abmahnung ist dagegen entbehrlich, wenn es sich bei dem Fehlverhalten des Arbeitnehmers um eine schwerwiegende Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne Weiteres erkennbar ist und bei der eine Hinnahme des Verhaltens offensichtlich ausgeschlossen ist (vgl. u.a. BAG v. 27.2.2020 – 2 AZR 570/19; BAG v. 13.12.2018 – 2 AZR 370/18. juris; BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, juris; BAG v. 26.9.2013 – 2 AZR 741/12, juris; BAG v. 25.10.2012 – 2 AZR 495/11, juris; BAG v. 28.10.2010 – 2 AZR 293/09, NZA 2011, 112 = DB 2011, 307).
Rz. 44
Die Rspr. hat entschieden, dass eine vorherige Abmahnung u.a. in folgenden Fällen entbehrlich ist:
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Strafbare Vermögensdelikte wie z.B. Diebstahl, Unterschlagung, Betrug (vgl. BAG v. 21.4.2005 – 2 AZR 255/04, NZA 2005, 991 = DB 2005, 2028; BAG v. 12.8.1999 – 2 AZR 923/98, NZA 2000, 421 = DB 2000, 48). Sofern beim Arbeitgeber nur ein verhältnismäßig geringer Schaden eingetreten ist, kann eine Interessenabwägung (bei der insb. die Dauer des störungsfreien Verlaufs des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen ist) allerdings ergeben, dass eine vorherige Abmahnung erforderlich ist (vgl. BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227 = DB 2010, 2395; Eine Kassiererin löst nach über 30-jähriger Betriebszugehörigkeit unberechtigt Pfandbons im Werte von 1,30 EUR ein, Fall "Emmely"; LAG Hamm v. 2.9.2010 – 16 Sa 260/10, LAGE § 626 BGB 2002 Nr. 28a = BB 2010, 2300, unberechtigtes Aufladen eines Elektrorollers am Arbeitsplatz durch einen Mitarbeiter mit neunzehnjähriger Betriebszugehörigkeit, das zu einem Schaden von 1,8 Cent geführt hat). |
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Missbrauch von Kontrolleinrichtungen (vgl. BAG v. 13.12.2018 – 2 AZR 370/18. juris; BAG v. 24.11.2005 – 2 AZR 39... |