Rz. 29
Mit zunehmender Größe sehen sich Familien mit Ungleichheit konfrontiert. Häufig entsteht schon mit dem Übergang zur zweiten Generation eine Aufspaltung der Funktionen: Es gibt tätige und nichttätige Gesellschafter, womöglich mit unterschiedlichen Beteiligungsquoten. Neben einer ungleichen Vermögensverteilung gibt asymmetrische Information Anlass zu Konflikten. Einige Familienmitglieder wissen und dürfen mehr als andere. Insbesondere der Geschäftsführende Gesellschafter hat eine besondere Rolle, er hat mehr Macht und Verantwortung als andere.
Rz. 30
Unternehmerfamilien gehen mit dieser Ungleichheit ganz unterschiedlich um. Bei den einen lehnen sich die Minderheitsgesellschafter voller Vertrauen zurück und sehen in der ungleichen Verteilung von Aufgaben und Verantwortung eine Entlastung. Die anderen entwickeln ein System von Kontrolle und Leistungsanreizen. Bestimmend ist dafür ihre Haltung im Spannungsfeld von Eigennutz und Verantwortung. Wie sehen sie die Interessen des Individuums und des Unternehmens? Gehen sie davon aus, dass der geschäftsführende Gesellschafter seinen Handlungsspielraum im Interesse des Unternehmens nutzt? Dass er "verantwortlich" handelt? Oder erwarten sie, dass er Freiräume zum persönlichen Vorteil ausschöpft? Dass er kontrolliert werden oder durch Tantiemen gelenkt werden muss? Und welche Haltung hat der geschäftsführende Gesellschafter? Sieht er sich – provokant formuliert – im Wettstreit mit seinen Geschwistern, Cousinen und Cousins um die großen Privilegien und Vorteile? Oder sieht er sich als Statthalter, verantwortlich für das Unternehmen – vielleicht sogar für das Familienvermögen? Und wie sieht er die nichttätigen Gesellschafter? Hält er sie womöglich vom Unternehmen fern, weil er ihnen einen verantwortungsvollen Blick nicht zutraut? Treibt ihn die Sorge, dass sie allein kurzfristige, materielle Interessen leiten, die im Widerstreit zu den Interessen des Unternehmens stehen?
Um es vorwegzunehmen: Die Steuerung des Unternehmens lässt sich weitgehend anpassen. Es gibt Governance-Strukturen, die zur Erwartungshaltung Eigennutz passen, und solche, die sich auf die Annahme stützen, dass Einfluss verantwortlich ausgeübt wird. Aber: Für eine Familie kann eine hohe Eigennutzorientierung zur Belastungsprobe werden.
Rz. 31
Eigennutz und Verantwortung stehen stellvertretend für zwei unterschiedliche Menschenbilder, beschrieben auch als homo oeconomicus und self-actualizing man. Der homo oeconomicus ist rational und berechenbar. Über Anreize wie z.B. Geld lässt sich sein Verhalten steuern. Passt das betriebliche Anreizsystem, leistet er den erwarteten Beitrag. Mag sein Verhalten auch von Eigennutz motiviert sein, meistens ist es doch zugleich förderlich für das Unternehmen. Seine Perspektive ist jedoch eher kurzfristig. Besonders hier und in Abgrenzung seiner Macht besteht ein latenter Interessenskonflikt mit dem Unternehmen. Tendenziell wird er einen Informationsvorsprung und Handlungsspielräume zum eigenen Vorteil nutzen. Die (Mit-)Eigentümer sind entsprechend auf Kontrolle bedacht, um (langfristig) Schaden vom Unternehmen abzuwenden, und setzen Anreize ein, um zielkonformes Verhalten zu fördern. Es ist eine auf Berechenbarkeit aber auch auf Misstrauen gegründete Beziehung zwischen Gesellschaftern und Geschäftsführung.
Auch in Familienunternehmen lassen sich Belege finden, die zu diesen Annahmen passen, etwa Familienmitglieder, die ihre Macht (Information und Handlungsspielräume) im Unternehmen tendenziell zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen. Diesen Familien entstehen Kosten: Kosten für Kontrolle, aber auch in Form von Vertrauensverlust. Die Erwartung an die Loyalität des Familienmitglieds wird enttäuscht, eine Belastung für den Familienfrieden.
Rz. 32
Das Bild vom self-actualizing man ist ein theoretischer Gegenentwurf. Es fügt sich gut in ein allgemein positives Bild vom Familienunternehmen. Der self-actualizing man setzt von sich aus (intrinsisch motiviert) sein Wissen und seine Handlungsspielräume zugunsten des Unternehmens und damit im Sinne der (Mit-)Gesellschafter ein. Hier wird also kein Interessensgegensatz zwischen dem Geschäftsführer und dem Unternehmen angenommen. Der Geschäftsführer sieht sich vielmehr als Sachwalter oder Treuhänder (Steward) und übernimmt die langfristige Perspektive der Eigentümer. Das Verhältnis ist weniger von Kontrolle als von Einbindung gekennzeichnet.
Dieses Menschenbild prägt das moderne Bild vom Geschäftsführenden Gesellschafter im Familienunternehmen. Es formt auch zunehmend die Haltung des tätigen gegenüber seinen nichttätigen Mitgesellschaftern. Es begünstigt eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Bestätigt sich das Vertrauen, wirkt es förderlich auch auf die privaten Beziehungen der Familienmitglieder.
Rz. 33
Machtbeziehungen treten sowohl im Verhältnis von Geschäftsführenden Gesellschaftern zu den übrigen Gesellschaftern auf als z.B. auch zwischen qualifizierten, gut informierten Mehrheitsgesellschaftern und weniger qualifizierten...