Rz. 29

Wie sich aus der oben dargestellten Rechtsprechung des BGH zu den Anforderungen an das einzusetzende Personal ergibt, stellt sich die Frage, ob nur ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte/Rechtsfachwirte/wirtinnen mit den im Rahmen des Fristenwesens delegierbaren Aufgaben betraut werden dürfen oder ob es auch möglich ist, "fachfremdes Personal" und ggf. unter welchen Voraussetzungen damit zu betrauen.

 

Rz. 30

In sehr vielen Entscheidungen des BGH wird die berufliche Qualifikation eines Mitarbeiters, dem ein Fehler unterlaufen ist, sehr häufig mit Rechtsanwaltsfachangestellte/er bzw. Rechtsfachwirt/wirtin angegeben. Vielfach findet sich aber auch nur der Hinweis "Büropersonal", ohne dass auf eine fachliche Qualifikation eingegangen wird. Bedauerlicherweise ist den BGH Entscheidungen häufig dann nicht zu entnehmen, welche Vorbildung dieses Büropersonal hat. Ein "bottleneck" in dieser Thematik stellen zudem die Haftpflichtversicherer dar, die im Fall der Realisierung eines Haftungsfalls ihre Eintrittspflicht verweigern bzw. verweigern könnten, wenn kein/e Rechtsanwaltsfachangestellte/er bzw. Rechtsfachwirt/wirtin eingesetzt wird. Für Kanzleien stellt sich jedoch in der heutigen Zeit vielfach das Problem, dass Rechtsanwaltsfachangestellte bzw. Rechtsfachwirte/wirtinnen am Markt nicht mehr in ausreichender Anzahl verfügbar sind, weshalb vielfach auf sog. "Quereinsteiger" zurückgegriffen wird. Nach unserer Auffassung müsste auch der Einsatz von solchen Quereinsteigern im Rahmen des Fristenwesens bei Einhaltung gewisser Voraussetzungen möglich sein. Wir bitten jedoch ausdrücklich unsere Leser, eigenständig zu prüfen, ob und in welchem Umfang sie Quereinsteiger in diesem Bereich einsetzen wollen und inwieweit sich dies mit dem eigenen geschlossenen Haftpflichtversicherungsvertrag deckt.

 

Rz. 31

Unsere Auffassung begründen wir wie folgt:

1. Kein grundsätzlicher Anspruch auf Wiedereinsetzung

Selbst eine Ausbildung zum/zur Rechtsanwaltsfachangestellten bzw. Rechtsfachwirt/wirtin begründet für sich allein genommen noch keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung, wenn ein Fehler einer auf diese Weise ausgebildeten Person zu einem Fristversäumnis führt. Auch bei derartig ausgebildeten Personen sind die Anforderungen des BGH an Zuverlässigkeit, Überwachung und stichprobenartige regelmäßige Kontrollen einzuhalten. So kann die Wiedereinsetzung versagt werden, wenn z.B. eine entsprechende Überwachung und stichprobenartige Kontrolle fehlt, eine Erkrankung oder tagesabhängige Unzuverlässigkeit für den Anwalt erkennbar war oder aber auch eine Neueinstellung/Weiterbeschäftigung nach längerer Berufspause (z.B. Elternzeit) erfolgt, ohne dass die Überwachung beim Start engmaschig erfolgt ist.

 

Rz. 32

2. Fachkräftemangel

So wie Richter mit Justizfachangestellten/Urkundsbeamten der Geschäftsstelle und Rechtspflegern sowie weiteren Mitarbeitern bei den Justizbehörden zusammenarbeiten und nicht sämtliche Tätigkeiten allein verrichten können, bedürfen auch Anwälte einer Unterstützung in ihrer täglichen Praxis. Die Ausbildungszahlen bei den Rechtsanwaltsfachangestellten (ReFas) sind in den letzten Jahren stark zurückgegangen; dabei ist nicht nur die Zahl der abgeschlossenen Berufsausbildungsverhältnisse[45] relevant; die Zahl der "Abbrecher" spielt ebenfalls eine sehr große Rolle. Denn viele begonnene Ausbildungsverhältnisse werden gar nicht erst mit einer bestandenen Abschlussprüfung beendet. Gemessen an den zurzeit zwar stagnierenden, viele Jahre lang aber steigenden Anwaltszahlen ist das Zahlenverhältnis in den letzten 20 Jahren weit auseinandergegangen. Die BRAK veröffentlicht auf ihrer Internetseite eine Statistik mit den Zahlen von 1998–2021, die den Rückgang deutlich machen.[46] Während 1998 bundesweit noch 9.962 Ausbildungsverträge zur/zum Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte/n abgeschlossen wurden, betrug die Zahl 2021 lediglich noch 3.554. Dem gegenüber stehen 165.587 zugelassene Rechtsanwälte zum 1.1.2022 (davon 60.057 weiblich); 1998 lag die Zahl noch bei 91.517 zugelassenen Anwälten.

 

Rz. 33

Vielfach bleibt Anwälten aufgrund der sinkenden Anzahl an ausgebildeten ReFas keine andere Wahl, als Quereinsteiger einzustellen, die bereits eine anderweitige Ausbildung genossen haben, wie z.B.:

Fremdsprachenkorrespondent/in
Europasekretär/in
Industriekaufmann/Industriekauffrau
Kaufmann/Kauffrau für Büromanagement
u.a.

Unter Berücksichtigung der unter nachstehend 3. aufgeführten Kriterien muss daher u.E. auch der Einsatz von sog. "Quereinsteigern" möglich sein.

 

Rz. 34

3. Qualifikationen von Quereinsteigern

Personen, die bereits über eine abgeschlossene Berufsausbildung, wie z.B. Fremdsprachenkorrespondent/in, verfügen, haben bereits durch den Abschluss dieser Ausbildung ein hohes Maß an Intelligenz erkennen lassen. Sofern diese an den fachlichen Tätigkeiten in einer Kanzlei Interesse und Motivation zeigen, sind diese recht einfach auf die Anforderungen an das Fristenwesen in einer Kanzlei individuell zu schulen durch Inhouse-Sch...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge