Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
Rz. 231
Der Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG bestimmt, dass Gewerbetreibende bei der steuerrechtlichen Gewinnermittlung das Betriebsvermögen anzusetzen haben, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung anzusetzen ist. Die Vorschrift gilt nicht nur für Einzelkaufleute und bei der Gewinnermittlung von Personenhandelsgesellschaften, sondern über § 8 Abs. 1 KStG auch für Kapitalgesellschaften. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz bezweckt nicht nur eine möglichst einfache Gewinnermittlung, sondern hat auch einen materiellen Gehalt. Nach der Wertentscheidung des Steuergesetzgebers ist die Handelsbilanz zumindest im Ausgangspunkt prinzipiell geeignet, das für die Steuerzahlung disponible Einkommen festzulegen.
Rz. 232
Die Kritik, die von Teilen des steuerrechtlichen Schrifttums an dem Maßgeblichkeitsgrundsatz de lege ferenda geäußert wird, ist zurückzuweisen. Denn das Ergebnis ist eine steuersystematisch zutreffende Maßgröße steuerlicher Leistungsfähigkeit. Das gilt v.a., weil die Grundidee des geltenden Steuerrechts einem marktwirtschaftlichen System verhaftet bleibt, weshalb das Steuerrecht erst auf einer sekundären Besteuerungsebene an den Güterverteilungsprozess durch Erhebung von Steuern anknüpft. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als sachgerecht, dass der Steuerstaat – gleichsam als Kostgänger der Steuerbürger – als "stiller Teilhaber" am Gewinn des Unternehmens teilnimmt und sich nicht besser stellt als der Inhaber oder die Anteilseigner des Unternehmens. Nicht zuletzt aufgrund der mittlerweile zahlreichen Durchbrechungen und der wachsenden Internationalisierung der Rechnungslegung, ist die Zukunft des Maßgeblichkeitsgrundsatzes nach wie vor in der Diskussion.
Rz. 233
Was die Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes anlangt, ergibt sich aus § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG zunächst, dass die Frage nach dem "ob" einer Bilanzierung, also dem Bilanzansatz, grds. nach Handelsbilanzrecht (§§ 238 ff. HGB) zu entscheiden ist. Dabei ist der Grundsatz nicht auf das Ergebnis der Handelsbilanz bezogen, sondern betrifft sämtliche Bilanzpositionen. Wird ein Posten in der Handelsbilanz zutreffend aktiviert oder passiviert und greift korrigierend keine steuerrechtliche Sonderregelung ein, muss dieser Posten in die Steuerbilanz übernommen werden. Dabei gelten alle Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung; eine Begrenzung auf die "Grundsätze" in einem allgemeineren Sinn ist weder vom Gesetzgeber gewollt noch mit dem eben dargestellten Zweck der Gewinnermittlung legitimierbar. Für den Bilanzansatz sehen § 5 Abs. 2a–Abs. 4b EStG Sondervorschriften vor, die darauf gerichtet sind, steuerrechtlich ein höheres Ergebnis auszuweisen als dies handelsrechtlich zulässig wäre.
Beispiel
Nach § 5 Abs. 4a EStG dürfen in der Steuerbilanz Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften generell nicht (mehr) gebildet werden. Hiervon abweichend müssen nach § 249 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 HGB Drohverluste aus einem schwebenden Geschäft als Rückstellung abgebildet werden, weil sie aufgrund des Imparitätsgrundsatzes zu antizipieren sind. Die Vorschrift des § 5 Abs. 4a EStG ist letztlich rein fiskalisch motiviert und lässt sich auch mit dem Leistungsfähigkeitsgedanken nicht begründen. Im Extremfall kann eine Kapitalgesellschaft insolvenzreif, weil überschuldet, sein und weist aufgrund der Vorschrift trotzdem noch einen "Gewinn" für steuerliche Zwecke aus.
Rz. 234
Die steuerlichen Passivierungsverbote und der Bewertungsvorbehalt können dazu führen, dass innerhalb eines Unternehmens stille Lasten, also Verpflichtungen, die noch nicht in der Steuerbilanz passiviert wurden, entstehen.
Insbesondere im Rahmen des Verkaufs von Sachgesamtheiten, wie z.B. im Rahmen eines sog. Asset-deals, aber auch im Wege der Einzelübertragung kommt es in der Praxis häufig zum Übergang von Verpflichtungen zwischen zwei Steuerpflichtigen. Regelmäßig zahlt der Veräußerer für die Befreiung von der Verbindlichkeit ein Entgelt. Dies kann in der Gestalt der Zahlung eines negativen Kaufpreises (Zahlung Veräußerer an Erwerber) oder in der Minderung des Entgelts für die übrigen Wirtschaftsgüter der Sachgesamtheit geschehen. Bilanzsteuerrechtliche Probleme wirft die entgeltliche Übertragung einer Verpflichtung insbesondere dann auf, wenn die übergehende Verpflichtung in der Steuerbilanz des Veräußerers aufgrund steuerspezifischer Beschränkungen nicht oder nicht in voller Höhe passiviert werden durfte. In derartigen Konstellationen stellt sich für den Veräußerer die Frage, wie sich die entgeltliche Befreiung von der nicht oder nicht in voller Höhe passivierten Verpflichtung bei der Gewinnermittlung auswirken. Insbesondere ist umstritten, ob durch die Befreiung ein bislang nicht erfasster Aufwand steuerrechtlich realisiert wird. Umkehrt war für den Erwerber lange zweifelhaft, ob die Passivierungsverbote oder Passivierungsbeschränkungen der Höhe nach für dessen Steuerbilanz gelten oder ob der Erwerber gegebenenfal...