I. Typischer Sachverhalt
Rz. 20
Eine italienische Gesellschaft hat einem deutschen Unternehmen angedroht, auf Grundlage einer Gerichtsstandsklausel ein Verfahren vor dem Tribunale di Milano wegen ausstehender Bezahlung der von ihr nach Deutschland gelieferten Waren einzuleiten. Das deutsche Unternehmen beruft sich auf Mängel und fühlt sich zudem an die Gerichtsstandsklausel nicht gebunden. Es möchte ein italienisches Verfahren u.a. wegen der langen Verfahrensdauer vermeiden. Kann eine Prozessführung in Italien durch eine frühere Klageerhebung vor einem deutschen Gericht verhindert werden?
II. Rechtliche Grundlagen
Rz. 21
Die Beachtung eines zwischen denselben Parteien im Ausland geführten Verfahrens mit identischem Streitgegenstand ist dem Ideal der Gleichwertigkeit ausländischer Gerichtstätigkeit verpflichtet, aber keineswegs selbstverständlich. So berücksichtigen deutsche Gerichte eine ausländische Rechtshängigkeit grundsätzlich nur dann, wenn das ausländische Gericht aus deutscher Sicht international zuständig ist und auch im Übrigen mit der Anerkennung der vom ausländischen Gericht zu fällenden Entscheidung zu rechnen ist (sog. positive Anerkennungsprognose). Die auf rein nationale Verfahren zugeschnittene Vorschrift des § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO wird insoweit bei internationalen Sachverhalten teleologisch reduziert. Die Anerkennung der Rechtshängigkeit stellt sich hierbei als Vorstufe der Urteilsanerkennung dar. Der Einwand anderweitiger internationaler Rechtshängigkeit ist grundsätzlich von Amts wegen zu berücksichtigen. Der betreffende Sachverhalt muss aber von der hierdurch begünstigten Partei dargelegt und ggf. nachgewiesen werden. Bei unsicherer Anerkennungsprognose kann das deutsche Verfahren ggf. nach § 148 ZPO ausgesetzt werden. Die Sperrwirkung ausländischer Rechtshängigkeit ist allerdings zeitlich begrenzt, so dass bei einer unzumutbar langsamen Verfahrensdauer im Ausland das inländische Verfahren fortgeführt oder neu eingeleitet werden kann.
Im Anwendungsbereich der EuGVO werden diese Rechtsprechungsgrundsätze seit der Reform der EuGVO durch die Bestimmungen der Art. 33 und 34 EuGVO verdrängt.
Rz. 22
Häufig verpflichten Staatsverträge zur Anerkennung einer ausländischen Rechtshängigkeit. Für die EU ist insbesondere die Regelung des Art. 29 EuGVO von großer praktischer Relevanz. Eine positive Anerkennungsprognose ist danach grundsätzlich keine Voraussetzung für die Beachtung der Rechtshängigkeit vor einem ausländischen Gericht. Art. 29 EuGVO ist aber nicht anwendbar bei einer ausschließlichen Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts. Die Verfahrensdauer im Ausland spielt keine Rolle, so dass inländischer Rechtsschutz auch dann zu verwehren ist, wenn das in einem anderen Mitgliedstaat anhängige Verfahren lange andauert. Seit Geltung der Neufassung der EuGVO kann sich das später angerufene Gericht allerdings gem. Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVO auf eine (prima facie bestehende) ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung zu seinen Gunsten stützen und vorrangig über die Zuständigkeitsfrage entscheiden. Diese Neuregelungen sollen verhindern, dass Gerichtsstandsvereinbarungen durch die missbräuchliche Einleitung von Parallelverfahren in Staaten mit notorisch langsamer Justiz torpediert werden. Damit sind sog. "Torpedoklagen" jedenfalls bei ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen ausgeschlossen.
Rz. 23
Im oben geschilderten Beispielsfall (siehe Rdn 20) könnte sich ein deutscher Gerichtsstand aus Art. 7 Nr. 1 EuGVO ergeben, sofern der (autonom zu bestimmende) Erfüllungsort in Deutschland liegt. Bei einer Klageerhebung vor einem deutschen Gericht müsste dieses allerdings nach Art. 31 Abs. 2 EuGVO zunächst die Zuständigkeitsentscheidung des nach der Gerichtsstandsvereinbarung zuständigen Tribunale di Milano abwarten und das eigene Verfahren aussetzen, wenn der italienische Vertragspartner in Mailand auf der Grundlage der Zuständigkeitsvereinbarung ein Parallelverfahren einleitet. Die vorrangige Klageerhebung in Deutschland kann somit einen Prozess in Italien nicht verhindern.