Rz. 54
Der Erblasser kann einen Erben auch in der Weise zum Erben einsetzen, dass dieser erst Erbe wird, nachdem zunächst ein anderer Erbe geworden ist (§§ 2100 ff. BGB). Das Institut der Vor- und Nacherbschaft gibt dem Erblasser die Möglichkeit, sein Vermögen zunächst einem Vorerben zuzuwenden und zusätzlich zu bestimmen, dass es nach einer bestimmten Zeit oder mit einem bestimmten Ereignis (z.B. Tod des Vorerben oder Erreichen eines bestimmten Lebensalters des Nacherben) auf eine andere Person übergeht. Vor- und Nacherbe sind beide Gesamtnachfolger des Erblassers. Der Nacherbe beerbt nicht den Vorerben, sondern unmittelbar den Erblasser. Mit dem Tod des Erblassers erwirbt der Vorerbe die Erbschaft. Der Nacherbe erlangt eine vererbliche und übertragbare Anwartschaft auf die Erbschaft, falls der Erblasser nichts anderes bestimmt.
Rz. 55
Der Vorerbe kann grundsätzlich über die zur Erbschaft gehörenden Gegenstände verfügen (§ 2112 BGB), doch hat er im Interesse des Nacherben gewisse Beschränkungen zu beachten (§§ 2113 ff. BGB). Im praktischen Ergebnis sind die Rechte des Vorerben daher vielfach kaum größer als die eines Nießbrauchers. Der Erblasser kann den Vorerben zwar von bestimmten Verfügungsbeschränkungen befreien (§§ 2136 ff. BGB); dies gilt allerdings nicht für das Verbot von Schenkungen, das auch für gemischte Schenkungen gilt (§ 2113 Abs. 2 BGB).
Rz. 56
Die Abgrenzung zwischen zulässigen entgeltlichen Verfügungen und unzulässigen unentgeltlichen Verfügungen erweist sich insbesondere dann als außerordentlich problematisch, wenn zum Nachlass Unternehmen oder Gesellschaftsbeteiligungen gehören.
Rz. 57
Als unentgeltliche Verfügung ist es im Allgemeinen anzusehen, wenn der Vorerbe über einen Nachlassgegenstand verfügt, ohne dass dem Nachlass eine objektiv gleichwertige Gegenleistung zufließt. Unzulässig ist danach i.d.R. die Kündigung der Mitgliedschaft oder die Zustimmung zur Einziehung eines Anteils ohne Gewährung einer Abfindung, die dem tatsächlichen Verkehrswert der Beteiligung entspricht (ab 1.1.2024: §§ 712, 728 BGB n.F. und §§ 130, 135 HGB n.F., zuvor § 738 BGB).
Rz. 58
Schwieriger zu beurteilen ist die Frage der Unentgeltlichkeit bei der Zustimmung zu Änderungen des Gesellschaftsvertrages, die sich nachteilig auf den Gesellschaftsanteil auswirken. Gleichmäßige Eingriffe in die vermögensrechtliche Position aller Gesellschafter werden im Allgemeinen als entgeltlich angesehen. Bei einseitigen Eingriffen in die Mitgliedschaftsrechte soll es für die Frage der Entgeltlichkeit auch darauf ankommen, ob sie wirtschaftlich zweckmäßig sind und den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Nachlassverwaltung entsprechen. Maßgebend sind demnach stets alle Umstände des konkreten Einzelfalls. Als streitanfällig könnten sich etwa folgende Fallkonstellationen erweisen:
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Der Vorerbe stimmt der Aufnahme eines neuen Gesellschafters in die Gesellschaft zu, obwohl dadurch der Wert seines eigenen Anteils möglicherweise verwässert wird. |
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Die Gesellschafter ändern die qualifizierte Nachfolgeklausel im Gesellschaftsvertrag in der Weise, dass u.a. der Nacherbe nicht mehr zum Kreis der nachfolgeberechtigten Personen gehört. |
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Angesichts der angespannten Liquidität der Gesellschaft wird die bestehende Fortsetzungsklausel unter Billigung des 70-jährigen Vorerben dahin gehend ergänzt, dass die Erben bei Ausscheiden eines Gesellschafters innerhalb der nächsten zehn Jahre nur eine Abfindung i.H.v. 50 Prozent des tatsächlichen Werts erhalten. |
Rz. 59
Maßnahmen des Vorerben, die gegen das Verbot unentgeltlicher Verfügungen verstoßen, werden mit Eintritt des Nacherbfalls unwirksam, wenn ihnen der Nacherbe nicht zustimmt.
Praxishinweis
In allen Zweifelsfällen sollte der Vorerbe daher die unwiderrufliche Zustimmung der Nacherben zu entsprechenden Gesellschafterbeschlüssen einholen. Ist dies nicht möglich oder nicht gewollt, sollte der Vorerbe in jedem Fall sorgfältig schriftlich dokumentieren, aus welchen Gründen er im konkreten Einzelfall von der Entgeltlichkeit der Verfügung überzeugt war (und auch überzeugt sein durfte).
Rz. 60
Der Vorerbe darf den Nachlass auf eigene Rechnung nutzen. Die Substanz muss er dagegen für den Nacherben erhalten. Der Gewinn aus einer zum Nachlass gehörenden Gesellschaftsbeteiligung steht dem Vorerben demnach insoweit zu, als es sich dabei um Nutzungen handelt (§§ 2111 Abs. 1 Satz 1, 99, 100 BGB). Das ist grundsätzlich hinsichtlich der Gewinne der Fall, die der Vorerbe tatsächlich entnommen hat bzw. nach dem Gesellschaftsvertrag hätte entnehmen können. Thesaurierte Gewinne gebühren dagegen dem Nachlass und stehen dem Nacherben zu. Die im Gesellschaftsvertrag enthaltenen Regelungen zur Gewinnentnahme können daher Anlass für eine abweichende Regelung der Gewinnverteilung durch den Erblasser sein. Die Abgrenzung wird aber auch bei sorgfältiger Regelung immer mit einem gewissen Missbrauchsrisiko verbunden bleiben (z.B. bei der Ausübung von Bilanzierungswahlrechten, der Bildung und Auflösung v...