Rz. 98

Zum Nachlass gehörende Gesellschaftsbeteiligungen sind nach der gesetzlichen Regelung für Zwecke der Pflichtteilsberechnung grundsätzlich mit ihrem wahren Wert (einschließlich eines etwaigen Firmenwerts und stiller Reserven) zu bewerten. Noch nicht abschließend geklärt ist indes die Frage, ob der volle Wert auch dann anzusetzen ist, wenn der Gesellschaftsvertrag für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters eine im Vergleich dazu geringere Abfindung vorsieht.[89] Aus Sicht des Erben erscheint es unbillig, wenn er dem Pflichtteilsberechtigten den vollen Wert der Beteiligung ersetzen muss, aber im Falle seines eigenen Ausscheidens nur einen geringeren Wert erhält. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Erbe nicht über ausreichende liquide Mittel zur Erfüllung des Pflichtteilsanspruchs verfügt und es deshalb zu einer zwangsweisen Verwertung des Gesellschaftsanteils kommt. Aus Sicht des Pflichtteilsberechtigten wäre es umgekehrt wenig sachgerecht, wenn er nur i.H.d. gesellschaftsvertraglich vorgesehenen Abfindung am Nachlass beteiligt wird, der Erbe aber tatsächlich gar nicht aus der Gesellschaft ausscheidet. Im Grundsatz ist wohl davon auszugehen, dass es für die Berechnung des Pflichtteilsanspruchs auf den vollen Wert der Beteiligung ankommt und etwaige Abfindungsklauseln im Gesellschaftsvertrag sich nicht zu Lasten des Pflichtteilsberechtigten auswirken. Ausnahmen kommen nur für solche Fälle in Betracht, bei denen der Erbe innerhalb kurzer Zeit nach Eintritt des Erbfalls[90] tatsächlich aus der Gesellschaft ausscheidet bzw. dessen Ausscheiden im Zeitpunkt des Erbfalls zumindest objektiv wahrscheinlich ist.[91] Für die Berechnung des Pflichtteilsanspruchs ist es dann allerdings nicht notwendig, den im Gesellschaftsvertrag vorgesehenen Abfindungswert, sondern einen Zwischenwert ansetzen. Bei dessen Bestimmung gilt es, einen angemessenen Ausgleich zwischen den verfassungsrechtlich geschützten Interessen des Pflichtteilsberechtigten einerseits und des Erben andererseits zu finden.

 

Rz. 99

Maßgebend sind stets alle Umstände des jeweiligen Einzelfalles. Dabei können u.a. folgende Aspekte zu berücksichtigen sein:

Leistungsfähigkeit des Unternehmenserben;
Bedürftigkeit des Pflichtteilsberechtigten;
Eigenkapital- und Liquiditätssituation des Unternehmens;
Zukunftsaussichten des Unternehmens;
Höhe des Pflichtteilsanspruchs;
Differenz zwischen dem tatsächlichen Wert und dem Wert aufgrund der Abfindungsklausel;
sonstige vermögensmäßige oder persönliche Beziehungen zwischen dem Unternehmenserben bzw. Pflichtteilsberechtigten und dem Unternehmen (z.B. Mitarbeit im Unternehmen, Zugehörigkeit zu Organen des Unternehmens und in diesem Zusammenhang bestehende Vergütungsansprüche, Bestehen von Darlehensverträgen oder Kreditsicherheiten).
 

Rz. 100

An Stelle einer angemessenen Reduzierung der Höhe des Abfindungsanspruchs können im Einzelfall auch andere Maßnahmen (z.B. die Stundung des Pflichtteilsanspruchs oder die Einräumung eines Leistungsverweigerungsrechts) sachgerecht sein und möglicherweise mit einem weniger weitgehenden Eingriff in die Rechte des Pflichtteilsberechtigten verbunden sein.

[89] Ausf. zum Streitstand Staudinger/Haas, § 2311 Rn 95 ff.; MüKo-BGB/Lange, § 2311 Rn 32 f. – Zur parallelen Frage beim Zugewinnausgleich (§ 1376 BGB) siehe BGH, Urt. v. 25.11.1998 – XII ZR 84/97; BGH NJW 1999, 784 = FamRZ 1999, 361 = DB 1999, 477 = MDR 1999, 362 = DStRE 1999, 363 = Wpg. 1999, 461.
[90] In Anlehnung an die Regelung des § 131 HGB n.F. bzw. § 139 HGB a.F. wird dabei vielfach eine Frist von drei Monaten als maßgebend angesehen.
[91] Siehe dazu insbesondere Bratke, ZEV 2000, 16, 18; Staudinger/Haas, § 2311 Rn 106; Reimann, ZEV 1994, 7, 10; Reimann, DNotZ 1992, 472, 486. – Siehe dazu aber auch BGH, Urt. v. 3.6.2020 – IV ZR 16/19, ZIP 2020, 1298 = EWiR 2020, 743 (Bochmann) = ZEV 2020, 420 m. Anm. Hölscher = DB 2020, 1450 = DB 2020, 2291 m. Anm. Wenzel/Falkowski = DStR 2020, 1582 = ZErb 2020, 289 m. Anm. Horn = NJW 2020, 2396 m. Anm. Schönenberg-Wessel = ErbR 2020, 633 m. Anm. Lienenlüke/Kurth = NotBZ 2020, 389 m. Anm. Müller-Engels = MittBayNot 2021, 46 m. Anm. Goslich = DNotZ 2021, 217 m. Anm. Braun (Die bei einer zweigliedrigen, vermögensverwaltenden Gesellschaft bürgerlichen Rechts für den Fall des Todes eines Gesellschafters vereinbarte Anwachsung seines Gesellschaftsanteils beim überlebenden Gesellschafter unter Ausschluss eines Abfindungsanspruchs kann eine Schenkung i.S.v. § 2325 Abs. 1 BGB sein), ausf. dazu Bühler, DNotZ 2022, 10; Grunewald, ZEV 2021, 65; Ivens, ZEV 2021, 277; Karczewski, ZEV 2023, 281; Karczewski, ZEV 2020, 733; Rachlitz/Vedder, notar 2020, 286; Schulte/Schulte, ErbR 2021, 822; Schulte/Schulte/Schulte, ErbR 2021, 742; Zimmermann, ZGR 2022, 144.

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