Rz. 185
Die Europäische Aktiengesellschaft ist am 8.10.2004 Wirklichkeit geworden. Lange haben die europäischen und nationalen Institutionen gerungen und schließlich die Sociétas Europaea (SE) geschaffen. Inzwischen existiert die SE-Verordnung (SE-VO). Der deutsche Gesetzgeber hat auch die sie ergänzenden Richtlinien (SE-RL) umgesetzt. Am 29.12.2004 trat das deutsche Einführungsgesetz (SE-EG) in Kraft.
Rz. 186
Für die Haftung von Organen von besonderer Bedeutung ist dabei Art. 51 SE-VO. Dieser Artikel regelt die Schadensersatzpflicht der Organmitglieder. Die Mitglieder des Leitungs-, Aufsichts- oder Verwaltungsorgans haften gemäß den im Sitzstaat der SE für Aktiengesellschaften maßgeblichen Rechtsvorschriften für den Schaden, welcher der SE durch eine Verletzung der ihnen bei der Ausübung ihres Amtes obliegenden gesetzlichen, satzungsmäßigen oder sonstigen Pflichten entsteht. Demzufolge treffen die Mitglieder der Leitungs-, Aufsichts- oder des Verwaltungsorgans zunächst einmal die ausdrücklich in der SE-Verordnung geregelten Pflichten, etwa die Verschwiegenheitspflicht der Organmitglieder in Art. 49 SE-VO. Entsprechende Amtspflichten lassen sich aber auch mittelbar aus den in der Verordnung festgelegten Aufgaben des Organs (Leitung, Überwachung, Unterrichtung, Einberufung der Hauptversammlung etc.) ableiten. Weitere Pflichten ergeben sich aus den für "Aktiengesellschaften maßgeblichen Rechtsvorschriften" und damit aus dem Aktienrecht des Sitzstaates. Die Besonderheit ist, dass der europäische Gesetzgeber eine große Flexibilität der Führungsstruktur erzielen wollte. Der deutsche Gesetzgeber hat sehr restriktiv reagiert und das dem deutschen Aktienrecht weiterhin bekannte System "von hinten durch die Brust ins Auge" dennoch gewählt und bei den Organmitgliedern zwischen Vorstand und Aufsichtsrat unterschieden (sog. dualistisches System). Zudem lässt die SE aber auch die insbesondere aus dem amerikanischen Bereich bekannten "Bord-Systeme" zu; daher findet sich in der europäischen Aktiengesellschaft implementiert auch das sog. monistische System. Daraus ergeben sich – schon bei den Grundlagen und insbesondere für die Schadensersatzpflicht der Organmitglieder (vgl. Art. 51 SE-VO) eine ganze Reihe von Fragen. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob für die Haftung von Organen einer SE mit Sitz und Hauptverwaltung in Deutschland tatsächlich einheitlich und umfassend § 93 AktG gilt. Für Vorstände einer dualistischen SE dürfte § 93 AktG nach Art. 9 I c ii SE-VO direkt gelten; für Aufsichtsräte einer dualistischen SE gilt die Verweisung des § 116 AktG i.V.m. Art. 9 I c ii SE-VO entsprechend. Es ist aber schon äußerst fraglich, was für den Verwaltungsrat einer monistisch geprägten SE gelten wird. Über die Verweisung des § 39 SE-AG i.V.m. Art. 9 I c i SE-VO könnte auch insofern § 93 AktG gelten. Für die geschäftsführenden Direktoren einer monistischen SE, die nicht zugleich Mitglieder des Verwaltungsrates sind, was möglich ist, könnte über die Verweisung des § 40 VIII SE-AG i.V.m. Art. 9 I c i SE-VO ebenfalls § 93 AktG gelten. Allerdings heißt es in § 40 VIII SE-AG wörtlich: "Für Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der geschäftsführenden Direktoren gilt § 93 AktG entsprechend". Dabei ist weitergehender Streit vorprogrammiert, insbesondere die Frage, ob lediglich für die Haftungsvoraussetzungen – und wenn ja in welchem Umfang – § 93 AktG gelten soll, oder auch im Hinblick auf die in § 93 Abs. 5 AktG enthaltene Verzichtsregelung, Verjährungsregelungen etc. Die Fragen können hier nur aufgeworfen werden. Ferner stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Organe der SE gesamtschuldnerisch haften – wie dies § 93 Abs. 2 AktG vorsieht. Nichts anderes gilt für die in § 93 Abs. 2 S. 2 AktG enthaltene Beweislast. Trifft die Geschäftsleiter der SE ebenfalls die Beweislastverteilung dahingehend, dass sie sich entlasten müssen? Über Art. 9 SE-VO dürfte dies jedenfalls für Organe bei der dualistischen Form der SE zutreffen. Ob und inwieweit dies auch bei monistischer Prägung der SE gilt, ist durchaus fraglich (vgl. § 39 und § 40 SE-AG). Generell stellt sich auch die Frage, ob und inwieweit die bei der Geltendmachung von Ansprüchen – die nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes eines vorherigen Aufsichtsratsbeschlusses bedürfen, dies bei dem Verwaltungsrat im monistisch geprägten System aussieht. Insofern gibt es hier immer noch ein gewisses offenes Terrain.