Dr. Burkhard Göpfert, Maximilian Melles
Rz. 72
Im Fall einer Betriebsänderung muss mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich "im Geiste" vertrauensvoller Zusammenarbeit verhandelt werden (§ 112 Abs. 1 BetrVG i.V.m. §§ 2 Abs. 1, 74 Abs. 1 BetrVG).
1. Inhalt und Verhandlungen
Rz. 73
Der Interessenausgleich soll klären, ob, wann und in welcher Weise die vorgesehene Maßnahme durchgeführt werden soll. Ein Unternehmer, der Ansprüche auf Nachteilsausgleich (§ 113 BetrVG) vermeiden will, muss das für den Versuch einer Einigung über den Interessenausgleich vorgesehene Verfahren voll ausschöpfen. Falls dies erfolglos bleibt, muss er sodann die Einigungsstelle anrufen, um etwaige Nachteilsausgleichszahlungen gem. § 113 Abs. 3 BetrVG zu vermeiden.
Rz. 74
Umstritten ist, ob die geplanten Betriebsänderungen und die dazugehörenden Maßnahmen, insb. Kündigungen, vor vollständigem Durchlaufen des Einigungsstellenverfahrens nicht durchgeführt werden dürften und daher durch einstweilige Verfügung (vorläufig) untersagt werden könnten.
Nach richtiger Auffassung sind die Nachteilsausgleichsansprüche nach § 113 BetrVG als spezielle und damit ausschließliche Sanktion anzusehen, sodass einstweilige Verfügungen nicht in Betracht kommen. Die Gegenansicht verweist hingegen darauf, dass der Nachteilsausgleichsanspruch gem. § 113 Abs. 3 BetrVG mangels Interessenausgleich und Interessenausgleichsverhandlung mit dem Betriebsrat keine geeignete Sicherung der kollektiven Beteiligungsrechte des Betriebsrates i.R.d. Betriebsverfassung darstelle.
In Abweichung zur 5. Kammer nimmt die 6. Kammer des LAG München das Bestehen eines Unterlassungsanspruchs als notwendig an, um die Mitwirkungsrechte des Betriebsrates zu sichern. Dieser Anspruch besteht so lange, bis die Betriebspartner einen Interessenausgleich abgeschlossen bzw. die Verhandlungen dazu beendet haben. Ohne einen Unterlassungsanspruch werde der Betriebsrat hinsichtlich seines Informations-, Beratungs- und Beteiligungsrechts schutzlos gestellt. Das LAG München stellt zur Begründung nunmehr aber maßgeblich auch darauf ab, dass das in der Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 11.3.2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der EU geforderte Nebeneinander von verfahrenssichernden Maßnahmen und Sanktionen einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrates neben dem individuellen Nachteilsausgleich gebieten würden. Es steht zu erwarten, dass andere Gerichte dieser europarechtlich geprägten Argumentation folgen könnten.
Rz. 75
Im Unterschied zum Sozialplan handelt es sich beim Interessenausgleich nicht um einen vollstreckbaren Titel, sondern um eine kollektive Vereinbarung besonderer Art, die keinen Anspruch des Betriebsrates auf deren Einhaltung erzeugt. Es handelt sich ggü. dem Betriebsrat nur um eine Naturalobligation. Deshalb kann der Unternehmer auch jederzeit davon Abstand nehmen, eine in Form eines Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat vereinbarte Betriebsänderung überhaupt durchzuführen.
Rz. 76
Gegenstand der Verhandlungen über einen Interessenausgleich sind grds. nicht einzelne Kündigungen, sondern die Betriebsänderung als solche. Insb. kommen folgende Gegenstände in Betracht:
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Zeitpunkt der völligen oder stufenweisen Produktionseinschränkung und der damit verbundene Personalabbau, |
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Erklärung des Betriebsrates, erforderlichen Anzeigen an Behörden nicht zu widersprechen, |
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Unterbleiben der Betriebsänderung überhaupt, |
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neue Produktion zur Vermeidung von Entlassungen und entsprechende Umschulungsmaßnahmen der Arbeitnehmer, |
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Maßnahmen zur Fortbildung der Arbeitnehmer, |
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Maßnahmen der Arbeitsgestaltung und |
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Einführung einer transparenten Personalplanung. |
Hinweis
Sollten die Betriebspartner allerdings die gem. § 102 BetrVG zwingend vorgeschriebene Anhörung des Betriebsrates in den Interessenausgleich einbeziehen wollen, müssen die von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmer konkret benannt werden.
Rz. 77
Ferner kann auch eine Namensliste der betroffenen Arbeitnehmer mit besonderen kündigungsschutzrechtlichen Rechtsfolgen vereinbart werden (§ 1 Abs. 5 KSchG). Dadurch wird der Kündigungsschutz der zu kündigenden Arbeitnehmer gravierend eingeschränkt: Zum einen wird vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt ist, zum anderen ist die soziale Auswahl nach § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit zu prüfen. Eine derartige grobe Fehlerhaftigkeit wäre aufgrund der Diskriminierungsverbote des AGG etwa zu bejahen, wenn eine bestimmte Altersgruppe in einem solchen Ausmaß übermäßig von einem Personalabbau betroffen ist, dass ihr Anteil dazu in keinerlei Verhältnis mehr steht. Verstößt eine Namensliste lediglich in einzelnen Punkten gegen Vorschriften des AGG, bleibt die Vermutungswirkung hinsichtlich des Wegfalls des Beschäftigungsbedürfnisses und des Fehlens einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit dennoch erhalten.
Die zwingende Betriebsra...