Rz. 4

Das Sozialhilferecht ist geprägt durch das Nachrangprinzip, das Individualisierungsprinzip und das Bedarfsdeckungsprinzip:

Der Grundsatz des Nachrangs ("materielle Subsidiarität", § 2 SGB XII) gilt im Verhältnis zu

(1) Möglichkeiten der Selbsthilfe (z.B. dem Einsatz der eigenen Arbeitskraft, dem Einsatz eigenen Einkommens oder Vermögens, der Realisierung von Ansprüchen ggü. Dritten); diese sind als "bereite Mittel" allerdings nur dann vorrangig, wenn sie tatsächlich zur Verfügung stehen (sog. Faktizitätsprinzip),[1] andernfalls ist Hilfe zu gewähren und der Anspruch nachträglich gem. § 93 SGB XII überzuleiten);
(2) tatsächlichen Leistungen Dritter (auch wenn diese ohne gesetzliche Verpflichtung erbracht werden);[2]
(3) Leistungsverpflichtungen Dritter, insb. aus dem Unterhaltsrecht (beachte jedoch § 94 Abs. 1a und Abs. 2 SGB XII);
(4) Ermessensleistungen anderer Sozialleistungsträger, die gem. § 2 Abs. 2 S. 2 SGB XII jedenfalls nicht unter Hinweis auf Sozialhilfeleistungen versagt werden dürfen.
 

Rz. 5

Das Individualisierungsprinzip fordert als Ausfluss der Menschenwürde eine auf die Einzelperson abgestellte Feststellung der Notlage und der Hilfegestaltung. Anspruchsinhaber ist der einzelne Hilfebedürftige, nicht die Familie als solche; den Wünschen und Präferenzen des Hilfeempfängers wird gem. § 9 Abs. 2 und 3 SGB XII in gewissem Umfang entsprochen.

In teilweiser Durchbrechung dieses Individualitätsgrundsatzes bestimmt § 27 Abs. 2 S. 1 SGB XII (zuvor wortgleich: § 19 Abs. 1 S. 2 SGB XII), dass bei nicht getrenntlebenden Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartnern (eheähnliche Partner gleich welchen Geschlechtes sind gem. § 20 SGB XII gleichgestellt) das Einkommen und Vermögen beider zu berücksichtigen ist. Sie bilden eine "Einsatz- und Bedarfsgemeinschaft", so dass Vermögensverschiebungen unter nicht getrennt lebenden Partnern für Zwecke der Sozialhilfe irrelevant sind.

 

Rz. 6

Gemäß dem Bedarfsdeckungsprinzip ist für die Gewährung der Sozialhilfe die tatsächliche Notlage maßgeblich, gleichgültig wodurch diese entstanden ist. Ist der Bedarf gedeckt worden, kann ("für die Vergangenheit") Sozialhilfe nicht mehr gewährt werden.[3] Eine Verrechnung von Ansprüchen des Sozialhilfeträgers gegen den Hilfebedürftigen ist nur in den engen Grenzen des § 26 Abs. 2 SGB XII (vormals §§ 25a, 29a BSHG: Erstattung bzw. Schadensersatz wegen zu Unrecht erbrachter Leistungen) zulässig. Die Tilgung von Schulden oder früheren Aufwendungen ist regelmäßig nicht Aufgabe der Sozialhilfe. Sozialhilfeansprüche sind grds. auch nicht vererblich.[4]

 

Rz. 7

Gem. § 10 Abs. 1 SGB XII kann Sozialhilfe durch persönliche Hilfe (z.B. Beratung), Geldleistung oder Sachleistung gewährt werden. Hinsichtlich der Leistungsarten ist einerseits zwischen der Hilfe zum Lebensunterhalt, HLU (= 3. Kap. §§ 27 bis 40 SGB XII) und andererseits den weiteren Hilfearten des 5. bis 9. Kap. (§§ 47 bis 74 SGB XII, insbesondere Krankenhilfe, Hilfe zur Pflege, Blindenhilfe, während das bisher 6. Kapitel: Eingliederungshilfe für Behinderte, seit 2020 in das SGB IX ausgegliedert wurde, nachstehend Rdn 18), früher zusammenfassend bezeichnet als "Hilfe in besonderen Lebenslagen" = HbL, zu unterscheiden. Dazwischen steht die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (vormals GSiG) des nunmehrigen 4. Kap. Die HLU dient als Grundhilfe für den allgemeinen Lebensbedarf (ab 2023 beträgt der Regelbedarfssatz der Stufe 1 monatlich 502 EUR, ab 2024 voraussichtlich 563 EUR) und der Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts (§ 27 SGB XII), d.h. insb. der Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und der Teilnahme am kulturellen Leben. Die Tatbestände der HbL hingegen gewähren auf die jeweiligen Erfordernisse zugeschnittene Leistungen für umgrenzte Personengruppen in besonderen Bedarfslagen, die im Gesetz typisiert erfasst sind. Der ohnehin benachteiligten Stellung der Hilfeempfänger in besonderen Lebenslagen Rechnung tragend, ist der Grundsatz der Nachrangigkeit der Sozialhilfe bei den HbL-Leistungen abgeschwächt, insb.[5] durch die Anerkennung einer besonderen Einkommensgrenze in §§ 85, 86 SGB XII, sowie den grundsätzlichen Wegfall der Pflicht zum Einsatz eigener Arbeitskraft im Bereich der HbL.[6]

[1] BVerwG, 5.5.1983 – 5 C 112/81, BVerwGE 67, 166.
[2] Anders jedoch dann, wenn ein Dritter bewusst für einen säumigen Sozialhilfeträger eintritt, vgl. BVerwG, 23.2.1966 – V C 93.64, BVerwGE 23, 255.
[3] Anders, wenn der Hilfebedürftige gegen die Ablehnung der Sozialhilfe Rechtsmittel eingelegt hat oder ein Dritter für den säumigen Träger eingetreten ist.
[4] Anders dann, wenn ein Dritter im Vertrauen auf die spätere Bewilligung der Sozialhilfe vorgeleistet hat und damit den Bedarf gedeckt hat, weil der Sozialhilfeträger nicht rechtzeitig geholfen hat, BSG, 23.7.2014 – B 8 SO 14/13 R, WKRS 2014, 28414, Tz. 12; LSG Niedersachsen-Bremen, 20.12.2017 – L 8 SO 293/15, ZEV 2018, 288.
[5] Vor dem 1.4.2017 galten ferner erhöhte Schonbeträge für Er...

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