Dr. Thilo Klingbeil, Dr. iur. Simon Kohm
Rz. 106
Die Kommission eröffnete erstmals 1996 durch eine Kronzeugenregelung die Möglichkeit, Geldbußen in Kartellsachen zu erlassen oder zu ermäßigen, wenn ein Unternehmen bei der Aufdeckung eines Kartells einen entscheidenden Beitrag geleistet hatte. Nach der überarbeiteten Mitteilung wird unterschieden zwischen Erlass einer Geldbuße und Ermäßigung einer Geldbuße; für beide Fälle gelten unterschiedliche Voraussetzungen und Verfahren.
Der Erlass einer Geldbuße setzt voraus, dass das Unternehmen als erstes Beweismittel vorlegt, die es der Kommission ermöglichen, gezielte Nachprüfungen im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Kartell durchzuführen oder im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Kartell eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festzustellen. Der Erlass einer Geldbuße wird nur dann gewährt, wenn die Kommission noch nicht über ausreichende Erkenntnisse und Beweismittel verfügte, um eine Nachprüfung anzuordnen oder eine solche Nachprüfung bereits durchgeführt hat. Weitere Bedingungen sind, dass das Unternehmen während des Untersuchungsverfahrens vollständig kooperiert, seine derzeitigen und früheren Mitarbeitern der Kommission zur Verfügung stehen, seine Teilnahme an dem Kartell unmittelbar nach Antragstellung beendet, es keine Beweismittel vernichtet, verfälscht oder unterdrückt und andere nicht zur Teilnahme an dem Kartell gezwungen hat. Das Unternehmen muss bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße stellen. Ist unklar, ob das Unternehmen die Bedingung der Erstvorlage erfüllt, kann es durch hypothetische Vorlage der Beweismittel bzw. einer Aufstellung der vorhandenen Beweismittel eine Entscheidung der Kommission herbeiführen.
Für die Ermäßigung einer Geldbuße muss das Unternehmen Beweismittel vorlegen, die für die Kommission gegenüber den vorhandenen Beweismitteln einen erheblichen Mehrwert darstellen. Die Bestimmung des Mehrwerts richtet sich danach, wie sehr die Beweismittel der Kommission zum Nachweis des Sachverhalts verhelfen. Legen mehrere Unternehmen solche Beweismittel vor, erhält das erste Unternehmen eine Ermäßigung von 30–50 %, das zweite von 20–30 % und jedes weitere bis zu 20 %. Das Unternehmen muss die Beweismittel von sich aus vorlegen.
Anträge können schriftlich oder mündlich gestellt werden. Eine mündliche Antragstellung wird zwar protokolliert. In diesem Fall stellt das Unternehmen weder selbst Unterlagen her noch erhält es solche, so dass es auch nicht Gefahr läuft, zu deren Herausgabe in einem späteren zivilrechtlichen Schadensersatzverfahren gezwungen zu werden (z.B. durch sog. "discovery orders"). Wird dem Antrag nicht stattgegeben, kann das Unternehmen seinen Antrag und die eingereichten Beweismittel zurückziehen. Eine Zusammenarbeit mit der Kommission kann bei der Festsetzung der Geldbuße als mildernder Umstand gewertet werden.
Die Verwendung der im Rahmen der Kronzeugenregelung erlangten Unterlagen ist auf Anwendungsfälle von Art. 101 AEUV beschränkt.