Rz. 147
Soweit es um die Auszahlung eines etwaigen Urlaubsanspruchs geht, sind bei der Berechnung der Urlaubs-/Urlaubsabgeltungsansprüchen eine Reihe von (neuen) Besonderheiten aufgrund der aktuellen bzw. geänderten Rechtsprechung des EuGH und des BAG (9. Senat) zu berücksichtigen:
a) Unionsrechtlicher Mindeststandard von vier Wochen Urlaub
Rz. 148
Der unionsrechtliche Mindeststandard für Urlaub beträgt gem. Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG vier Wochen. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann das nationale Recht vorsehen, dass auf Urlaubsansprüche, die über den unionsrechtlichen Mindeststandard hinausgehen, Fehltage wegen Arbeitsunfähigkeit ganz oder teilweise angerechnet werden (vgl. EuGH v. 19.11.2019 – C-609/17, C-610/17 TSN). Tariflicher Sonderurlaub, der über den vierwöchigen unionsrechtlichen Mindesturlaub hinausgeht, fällt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und kann daher allein national bestimmt werden (EuGH v. 4.6.2020 – C-588/18, juris Fetico).
Praxistipp
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Der unionsrechtliche Mindeststandard für Urlaub beträgt vier Wochen. |
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Darüber hinaus gehender Urlaub kann national geregelt werden. |
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Bei Erkrankung bleibt bei einer entsprechenden nationalen Regelung dann nur der gesetzliche Mindesturlaub erhalten. |
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Gleiches gilt für etwaigen tariflichen Sonderurlaub. |
b) Erlöschen des (Teil-) Urlaubanspruchs – Belehrungspflicht über Verfallfristen
Rz. 149
Gem. § 7 Abs. 3 S. 1 BurlG muss der Urlaub im laufenden Kalenderjahr genommen werden bzw. bei möglicher Übertragbarkeit bis zum 31.3. des Folgejahres. Aber: Nach der Rspr des EuGH und des BAG erlischt der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub in der Regel nur dann am Ende des Kalenderjahres, wenn der Arbeitgeber ihm zuvor über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (vgl. BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 541/15, juris Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers – Richtlinienkonforme Auslegung von § 7 Abs. 1 u. 3 BUrlG). Mit dieser Rechtsprechung hat der 9. Senat des BAG die Vorgaben des EuGH aus dem Jahr 2018 (vgl. EuGH v. 6.11.2018 – C-684/16 Max-Planck-Gesellschaft ./.Tetsuji Shimizu) umgesetzt. Die EuGH-Entscheidung erfolgte aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des 9. Senats des BAG (vgl. BAG v. 13.12.2016 – 9 AZR 541/15 [A], juris). Mit zwei Urteilen vom 20.12.2022 hat das BAG die Hinweispflichten für Arbeitgeber im Zusammenhang mit Urlaubsansprüchen noch einmal verschärft (vgl. BAG v. 20.12.2022 9 AZR 245/19, juris; BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 266/20, juris). Danach können Ansprüche im laufenden Arbeitsverhältnis weder verfallen noch verjähren, solange durch den Arbeitgeber keine vollständige Belehrung über den jeweils konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen erfolgt ist und solange der Arbeitnehmer nicht aufgefordert wurde, den Urlaub zu nehmen.
Rz. 150
Schon zuvor hatte das BAG seine Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 und 3 BUrRG erweitert (vgl. BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 579/16, juris). Danach unterliegt auch der Teilurlaub nach § 5 Abs. 1a BUrlG der Verfallfristen des § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG, wenn der Arbeitgeber seinen entsprechenden Mitwirkungspflichten nachgekommen ist. Ferner bestehen Mitwirkungspflichten des Arbeitgebers für den über den gesetzlichen Urlaubsanspruch hinausgehenden vertraglichen Mehrurlaub. Ferner hielt der Senat fest, dass die arbeitgeberseitigen Mitwirkungspflichten nicht dadurch entfallen, dass ein Rechtsstreit über das Bestehen des Arbeitsverhältnisses anhängig ist.
c) Urlaubsverfall nach 15-Monatsfrist auch bei Langzeiterkrankungen?
Rz. 151
Das BAG hat für Langzeiterkrankte unionsrechtskonform anstelle des dreimonatigen Übertragungszeitraums den 15-monatigen Übertragungszeitraum entwickelt (vgl. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, juris). Denn nach der Rspr. des EuGH darf der Urlaubsanspruch nicht am Ende des dreimonatigen Übertragungszeitraums erlöschen, wenn ein Arbeitnehmer wegen Arbeitsunfähigkeit, die bis zum Ende des Übertragungszeitraums fortgedauert hat, seinen Urlaub tatsächlich nicht nehmen konnte (EuGH v. 20.1.2009 – C-350/06, C-520/06, juris) Auf dieser Grundlage legt das BAG § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG europarechtskonform so aus, dass gesetzliche Urlaubsansprüche (erst) 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfallen, wenn ein Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung und damit an der Realisierung des Urlaubsanspruchs gehindert war.
Rz. 152
Als neue Frage hatte der 9. Senat des BAG den EuGH um Vorabentscheidung ersucht, ob das Unionsrecht das Erlöschen des Urlaubsanspruchs bei einer ununterbrochen fortbestehenden Erkrankung des Arbeitnehmers 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können (vgl. BAG v. 7.7.2020 – 9 AZR 401/19 [A], juris Ls).
Rz. 153
In Umsetzung der EuGH-Entscheidung (EuGH v. 22.9.2022 – C-518/20 und C-727/20, juris) zur richtlinienkonformer Auslegung des § 7 Abs. 1 und Abs. 3 BUrlG ist das BAG in der Entschei...