Rz. 25
Im Unterschied zum Marktpreis, d.h. einem tatsächlichen Transaktionspreis, ist der Verkehrswert (Marktwert) eine Schätzung des Transaktionspreises, der sich am wahrscheinlichsten im Markt aus dem funktionalen Zusammenhang zwischen Angebot und Nachfrage gebildet hätte, wenn das Bewertungsobjekt zum Bewertungsstichtag verkauft worden wäre; als solcher ist er kein Faktum, aber ein objektivierter, intersubjektiv nachprüfbarer Wert.
Rz. 26
Die Legaldefinitionen vom Verkehrs- und gemeinen Wert unterstellen eine hypothetische Transaktion; zu beachten jedoch ist der Konjunktiv: Der Wert werde durch den Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr zu erzielen wäre. Dies kann zu dem Missverständnis verleiten, Wert und Preis seien dasselbe.
Dazu führt der BGH aus:
Zitat
"Der Preis einer Sache muss nicht ihrem Wert entsprechen. Er (…) wird jeweils zwischen Käufer und Verkäufer ausgehandelt. "Marktpreis" und objektiver Verkehrswert spielen keine entscheidende Rolle, vielmehr (…) häufig auch die persönlichen Vorstellungen und Wünsche der Kaufinteressenten."
Rz. 27
Der Preis einer Sache liegt in jedem konkreten Einzelfall zwischen den subjektiven Wertvorstellungen (Grenzpreisen) von Käufer und Verkäufer, die von denen eines "typischen Marktteilnehmers" abweichen können. Die endgültige Festlegung des Kaufpreises wird durch unterschiedliche Verhandlungspositionen und andere subjektive Faktoren wie Verhandlungstaktik und -geschick beeinflusst.
Die Praxis zeigt, dass in Verkaufsprozessen – bspw. in Bieterverfahren – die Preisvorstellungen bezüglich ein und desselben Transaktionsobjektes unter mehreren Kaufinteressenten auseinandergehen. Bei einer Personenmehrheit auf Verkäuferseite – bspw. einer Erbengemeinschaft – kann dieses Phänomen sogar auf beiden Seiten auftreten (siehe Rdn 5).
Anders als beim Marktwert unterstellt die international gebräuchliche Definition des Investitionswertes keine hypothetische Transaktion:
Zitat
"Der Investmentwert ist der Wert eines Anlagevermögens für den Eigentümer oder einen (bestimmten) zukünftigen Eigentümer im Hinblick auf dessen individuelles Investment oder bestimmte Anlageziele".
Rz. 28
Die moderne Bewertungslehre stellt auf objektivierte Werte ab. Erst die statistische Auswertung einer Mehrzahl für den gewöhnlichen Geschäftsverkehr repräsentativer Transaktionspreise führt zu einer Objektivierung von zunächst sich in einzelnen Preisen widerspiegelnder subjektiver Investitionswerte bestimmter Käufer. Ein einzelner Preis macht i.d.R. noch keinen "Markt" bzw. "Geschäftsverkehr".
Deswegen wird der Wert im Vergleichswertverfahren auch aus einer "ausreichenden Anzahl von Vergleichspreisen" ermittelt (§ 24 Abs. 1 S. 1 ImmoWertV) und versteht sich der Liegenschaftszinssatz im Ertragswertverfahren als der Kapitalisierungszinssatz, mit dem Grundstücke "im Durchschnitt marktüblich" verzinst sowie die allgemeinen Wertverhältnisse auf dem Grundstücksmarkt erfasst werden (§ 21 Abs. 1 und 2 ImmoWertV). Schließlich werden auch Sachwertfaktoren für das Sachwertverfahren auf Grundlage von geeigneten Kaufpreisen (Plural!) ermittelt. Insofern sind all diese Bewertungsparameter letztlich auch typisierte Annahmen, die allerdings aus dem Marktgeschehen abgeleitet und nicht normativ vorgegeben sind.
Rz. 29
Insofern geht die Finanzrechtsprechung fehl, wenn sie aus dem Vorliegen eines (mehr oder weniger zeitnahen) Verkaufspreises, der vom ordnungsgemäß ermittelten Verkehrswert abweicht, auf die "Unrichtigkeit" des Letzteren schließt.
Das sachlich treffendere Argument (für den Gesetzgeber), um der Besteuerung einen zeitnah realisierten Kaufpreis anstelle eines sachverständig ermittelten Verkehrswertes zugrunde zu legen, ergibt sich i.S.d. Gleichheitsgrundsatzes aus dem Bewertungszweck, nämlich der Quantifizierung der steuerlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen aus dem tatsächlichen Vermögenszufluss in Geldeinheiten statt in geschätzten Substanzwerten. Dies sollte dann allerdings auch in beide Richtungen gelten, also bei Realisation von Kaufpreisen ober- und unterhalb des Verkehrswertes, solange diese unter fremden Dritten im gewöhnlichen Geschäftsverkehr erzielt wurden. Nicht der Kaufpreis ist das Surrogat für den gemeinen Wert, sondern andersherum.
Rz. 30
Auch der BGH hat zu Recht immer wieder betont, dass der für einen Nachlassgegenstand erzielte Kaufpreis nicht unbedingt mit dessen "Normalkaufpreis" (Verkehrswert) identisch sein muss, aber immer ein sehr starkes Indiz dafür sei. So wurde bspw. "im erbrechtlichen Bewertungsrecht" der "gesicherten Ebene tatsächlich erzielter Verkaufserlöse" der Vorzug vor dem "wahren oder inneren" Wert gegeben.
Gleichzeitig muss es bspw. dem Pflichtteilsberechtigten möglich sein, das Indiz zu entkräften, indem er nachweist, dass der Nachlassgegenstand zu einem Kaufpreis unter Verkehrswert verschleudert wurde. Im Erbrecht (z.B. bei Pflichtteilsrechten und Teilungsanordnungen) kann der Verkehrswert also gewissermaßen als eine Untergrenze des "Werts" i.S...