Rz. 99
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang der Emittent und/oder dessen Organmitglieder einem Anleger zum Schadensersatz verpflichtet sind, wenn der Emittent seiner Veröffentlichungspflicht nach Art. 17 MMVO nicht nachkommt, hat den Gesetzgeber, die Gerichte und das Schrifttum in der Vergangenheit stark beschäftigt.
Rz. 100
In §§ 97 f. WpHG sind Schadensersatzansprüche der Anleger gegen den Emittenten kodifiziert. Demgegenüber steht bei der Frage der Haftung von Organmitgliedern des Emittenten mangels einer spezialgesetzlichen Regelung die Erörterung der deliktischen Haftung aus § 826 BGB im Vordergrund. Das KapMuG ermöglicht, u.a. in Fällen, in denen eine Schadensersatzpflicht des Emittenten nach §§ 97 f. WpHG ggü. einer Vielzahl von Anlegern in Rede steht, das Vorliegen oder Nichtvorliegen anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen oder Rechtsfragen in einem vor dem OLG zu führenden Musterverfahren mit verbindlicher Wirkung für sämtliche anhängige Verfahren zu diesem Sachverhalt klären zu lassen.
Rz. 101
Was die Beschäftigung der Zivil- und teilweise auch Strafgerichte zu diesem Thema in den letzten Jahren angeht, so sind die maßgeblichen Entscheidungen bzw. Schlagworte, unter denen die Diskussion geführt wird: "Infomatec", "EM.TV", "Comroad" und "IKB". Der VW-Diesel-Skandal ebenso wie die Wirecard-Situation sind aktuelle Fälle, die die Gerichte stark beschäftigen.
aa) Haftung des Emittenten gem. §§ 97, 98 WpHG
Rz. 102
§ 97 WpHG normiert den Schadensersatzanspruch des Anlegers gegen den Emittenten wegen unterlassener unverzüglicher Veröffentlichung von Insiderinformationen, § 98 WpHG die Haftung des Emittenten für die Veröffentlichung unwahrer Insiderinformationen. Die beiden Anspruchsgrundlagen dienen nicht nur dem Schutz der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts, sondern sie wurden für die Geltendmachung erlittener Vermögensschäden einzelner Anleger geschaffen und stärken gezielt den individuellen Anlegerschutz. Mit Blick auf die Rechtsnatur ist umstritten, ob die §§ 97, 98 WpHG eine Vertrauenshaftung begründen oder ob es sich um deliktische Ansprüche handelt.
Rz. 103
Die Schadensersatzpflicht nach § 97 Abs. 1 WpHG besteht sowohl im Fall der Unterlassung positiver als auch negativer Veröffentlichungen. § 97 Abs. 1 Nr. 1 WpHG betrifft den Fall, dass der Anleger die Finanzinstrumente unter Berücksichtigung der von dem Emittenten unterlassenen Ad-hoc-Mitteilung (mit negativem Inhalt) "zu teuer" kauft, während § 97 Abs. 1 Nr. 2 WpHG dem Anleger Schadensersatz gewährt, der bereits zuvor gehaltene Finanzinstrumente unter Berücksichtigung der vom Emittenten unterlassenen Ad-hoc-Mitteilung (mit positivem Inhalt) "zu billig" verkauft. Ebenso verhält es sich bei § 98 WpHG: Nach Abs. 1 Nr. 1 erhält der Anleger Schadensersatz, der unter Berücksichtigung der vom Emittenten veröffentlichten unwahren Ad-hoc-Mitteilung (mit positivem Inhalt) "zu teuer" kauft, während Abs. 1 Nr. 2 WpHG wiederum den Fall erfasst, dass ein Anleger bereits zuvor gehaltene Finanzinstrumente unter Berücksichtigung der vom Emittenten veröffentlichten unwahren Ad-hoc-Mittei...