Rz. 464
In der Krise des Unternehmens, insbesondere wenn das Unternehmen in einer haftungsbeschränkten Rechtsform geführt wird, trifft die Geschäftsleiter nicht nur die Verantwortlichkeit für das Interesse der von ihnen geführten Gesellschaft, sondern auch verstärkt eine Verantwortlichkeit für Gläubigerinteressen. Inwieweit bereits mit drohender Zahlungsunfähigkeit eine Pflichtenverlagerung (sog. shift of duties) dahingehend eintritt, dass der Geschäftsführer nunmehr zuvorderst die Interessen der Gläubigerschaft zu wahren habe, ist Gegenstand lebhafter Diskussion. Soweit ersichtlich, liegen gerichtliche Entscheidungen hierzu noch nicht vor (zur Diskussion um Einzelnen s.u. Rdn 548).
Mit Fortschreiten der Krisenentwicklung der Gesellschaft und ganz besonders nach Eintritt der Insolvenzreife steigt für den Geschäftsleiter die Gefahr, seine Sorgfaltspflichten zu verletzen und deshalb in die Gefahr persönlicher Haftungen (straf- und zivilrechtlich) zu geraten.
Rz. 465
Die praktische Erfahrung zeigt, dass besonders Geschäftsführer kleiner und mittlerer Gesellschaften in haftungsbeschränkter Rechtsform (GmbH, GmbH & Co.KG) die Pflichten und zivil- und strafrechtlichen Haftungsgefahren, die bei Eintritt der Krise der Gesellschaft entstehen, häufig nicht (er-)kennen. Noch stärker gilt dies für Gesellschafter-Geschäftsführer von inhabergeführten Gesellschaften. Häufig decken sich die kaufmännischen Bestrebungen des Geschäftsführers, den Geschäftsbetrieb in der Hoffnung auf Sanierung oder Veräußerung aufrecht zu erhalten, nicht mit den rechtlichen Anforderungen des Gläubigerschutzes. Immer wieder wird hier insbesondere der anwaltliche Berater wesentliche Aufklärungsarbeit zu leisten haben.
Rz. 466
Die folgende Darstellung folgt dem Krisenverlauf und zeigt die sich mit Fortgang der Unternehmenskrise verändernden Geschäftsleiterpflichten und die sich erhöhenden Haftungsrisiken auf: von der allgemeinen Culpa-Haftung über die Insolvenzverursachungshaftung bis zur Insolvenzverschleppungshaftung, selbstverständlich einschließlich der teilweisen Neujustierung durch die aktuellen Gesetzesänderungen, etwa durch das am 1.1.2021 in Kraft getretene SanInsFoG oder das am 27.9.2022 in Kraft getretene SanInsKG. Außerdem werden die sonstigen "krisennahen" Haftungsrisiken dargestellt.
1. Übersicht über die Haftungstatbestände
Rz. 467
Zunächst sei ein Überblick über die Vielzahl der Haftungstatbestände und -gefahren zu verschaffen, denen insbesondere die Geschäftsleiter haftungsbeschränkter Gesellschaften in der Krise der Gesellschaft ausgesetzt sind. Für die Haftung der Geschäftsleiter ist zu unterscheiden zwischen Innenhaftung (= Haftung ggü. der Gesellschaft) und Außenhaftung (= Haftung ggü. Dritten, insbes. Gläubigern der Gesellschaft).
a) Tatbestände der Innenhaftung
aa) Allgemeine Haftungstatbestände
Rz. 468
Selbstverständlich hat der Geschäftsleiter auch in der Krise der Gesellschaft die Geschäfte mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes zu führen (vgl. nur § 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 AktG). Bei Verletzung dieser Pflicht kommt eine Schadensersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft im Rahmen der sog. Culpahaftung in Betracht (vgl. §§ 43 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 2 AktG).
Rz. 469
Weitere relevante gesetzlich geregelte Einzeltatbestände sind:
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Falsche Angaben zum Zweck der Errichtung, etwa § 9a GmbHG, |
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Verletzung der Pflicht zur ordnungsgemäßen Führung der Gesellschafterliste, § 40 Abs. 3 GmbHG, |
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Nichtbefolgung von Gesellschafterweisungen, etwa § 37 Abs. 1 GmbHG, |
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Verletzung der Pflicht zur ordnungsgemäßen Buchführung, etwa § 41 GmbHG. |
Rz. 470
Als besondere Tatbestände sind zu nennen:
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Pflicht zur Erhaltung des Stamm- bzw. Grundkapitals mit Ersatzpflicht für entgegen den Verboten in § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG an die Gesellschafter zurückgezahlte Einlagen, § 43 Abs. 3 GmbHG, § 93 Abs. 3 Nr. 1 AktG, |
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Verbot, an Geschäftsführer, Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigte der Gesellschaft Darlehen aus dem gebundenen Vermögen der Gesellschaft auszureichen (§ 43a GmbHG): Nach § 43a GmbHG dürfen an die Geschäftsführer und die weiteren dort genannten Führungspersonen Kredite aus dem gebundenen Vermögen nicht gewährt werden. Die Vorschrift erfasst nur die Darlehensausreichung. Gerät die Gesellschaft später in eine Unterbilanz, ist § 43a GmbHG nicht anwendbar. |
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Mitwirkung bei existenzvernichtenden Eingriffen der Gesellschafter (§§ 826, 830 BGB), |
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Ers... |