Rz. 62
Die Begriffe Vertrag und Ansprüche aus Vertrag sind autonom – das heißt gemeinschaftsrechtlich, ohne Rückgriff auf lex fori (siehe oben Rdn 2) oder lex causae (siehe oben Rdn 10) – auszulegen, um die einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Sie setzen voraus, dass eine von einer Person gegenüber einer anderen freiwillig eingegangene Verpflichtung bestimmt werden kann, auf die sich die betreffende Klage stützt; der Abschluss eines Vertrages ist dagegen nicht Tatbestandsmerkmal. Die "vertragliche" Verpflichtung kann vielmehr stillschweigend entstanden sein, insbesondere dann, wenn dies aus eindeutigen Handlungen folgt, die den Willen der Parteien – wie beispielsweise im Rahmen von langjährigen Geschäftsbeziehungen möglich – zum Ausdruck bringen. Ausreichend ist es für eine Zuständigkeit am Erfüllungsort auch, dass der Klage eine Verpflichtung zugrunde liegt, die eine Partei gegenüber einem Vertragspartner der anderen Partei freiwillig eingegangen ist; denn die Zuständigkeitsregel beruht auf der Grundlage der Klage – d.h. der vertraglichen Natur rechtlichen Verpflichtung – und nicht auf der Identität der jeweiligen Parteien. Dass der Beklagte das Nichtbestehen des Vertrages geltend macht, hindert die Zuständigkeit nicht.
Rz. 63
Dass zwischen den Parteien des Verfahrens eine vertragliche Beziehung besteht und eine der Vertragsparteien eine Klage wegen zivilrechtlicher Haftung gegen die andere Vertragspartei erhebt, bedeutet aber noch nicht, dass diese Klage einen "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" (Art. 7 Nr. 1 lit. a) EuGVVO; Art. 5 Nr. 1 lit. a) LugÜ II) betrifft. Dies ist vielmehr nur dann so, wenn das vorgeworfene Verhalten als Verstoß gegen die vertraglichen Verpflichtungen angesehen werden kann, wie sie sich anhand des Vertragsgegenstands ermitteln lassen. Dies wiederum ist grundsätzlich der Fall, wenn eine Auslegung des Vertrags zwischen den Parteien unerlässlich erscheint, um zu klären, ob das dem Beklagten vom Kläger vorgeworfene Verhalten rechtmäßig oder vielmehr widerrechtlich ist. Ansonsten ist die Zuständigkeit für unerlaubte Handlungen oder Handlungen, die einer solchen gleichgestellt sind, oder für Ansprüche aus einer solchen Handlung einschlägig (Art. 7 Nr. 2 EuGVVO; Art. 5 Nr. 3 LugÜ II; siehe dazu Rdn 74). Die Anwendbarkeit von Art. 7 Nr. 1 EuGVVO einerseits und Art. 7 Nr. 2 EuGVVO andererseits hängt zum einen davon ab, ob der Kläger sich dafür entscheidet, sich auf eine der besonderen Zuständigkeitsregeln zu berufen, und zum anderen davon, dass das angerufene Gericht die besonderen Voraussetzungen dieser Bestimmung prüft. Auch eine Gläubigeranfechtungsklage, mit der der Inhaber einer auf einem Vertrag beruhenden Forderung beantragt, ihm gegenüber eine für seine Ansprüche angeblich nachteilige Handlung für unwirksam zu erklären, mit der sein Schuldner ein Rechtsgut an einen Dritten übertragen hat, kann in den Vertragsgerichtsstand fallen.
Rz. 64
Der Ort, an dem diese Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre, ist nach den für diese Verpflichtung maßgeblichen Kollisionsnormen des angerufenen Gerichts zu bestimmen, sofern der Anwendungsbereich der hierzu vorhandenen, vorrangigen gemeinschaftsrechtlichen Regelungen (Art. 7 Nr. 1 lit. b) EuGVVO; Art. 5 Nr. 1 lit. b) LugÜ II) nicht eröffnet ist; siehe auch unten Rdn 67.
Rz. 65
Der Gerichtsstand greift nicht nur ein, wenn um einzelne Ansprüche aus einem Vertrag gestritten wird, sondern auch dann, wenn der Vertrag als solcher Streitgegenstand ist. Auch Klagen, mit denen das Bestehen oder Nichtbestehen eines Vertragsverhältnisses festgestellt werden soll, können daher darunter fallen. Unter den Begriff "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag" fallen auch die zwischen zwei Gesamtschuldnern aufgrund einer vertraglichen Beziehung entstandenen Verpflichtungen und insbesondere die Möglichkeit eines Gesamtschuldners, der den Anteil des anderen an der gemeinsamen Schuld ganz oder teilweise gezahlt hat, diesen Betrag zurückzuerlangen, indem er eine Regressklage erhebt; wenn eine solche Klage auf dem Bestehen des Vertrags beruht, wäre es künstlich, für die Zwecke der Anwendung der EuGVVO das Rechtsverhältnis zwischen den Gesamtschuldnern von dem Vertrag zu trennen, der dieses Rechtsverhältnis begründet hat und ihm zugrunde liegt.
Rz. 66
Die autonome Begriffsbestimmung führt dazu, dass zwar Ansprüche aus Vertragsverletzung – einschließlich der Rückabwicklung wegen Schlechterfüllung – zur Gerichtspflichtigkeit führen, grundsätzlich aber nicht Ansprüche aus culpa in contrahendo, da diese nicht aus einer freiwillig eingegangenen Verpflichtung herrühren. Auch Ansprüche aus der Verletzung von Schutz- und Obhuts(neben)pflichten – insbesondere wenn diese sich aus Treu und Glauben herleiten – unterliegen grundsätzlich nicht dem Vertragsgerichtsstand. Dessen Anwendung sollte allerdings bei der Verletzung vorvertraglicher P...