Rz. 258
Eine Abmahnung, die rechtswirksam erteilt worden ist, kann später wirkungslos werden. Hier sind im Wesentlichen drei Fälle zu unterscheiden:
1. Mangelnde Ernstlichkeit
Rz. 259
Die Warnfunktion einer Abmahnung kann erheblich dadurch abgeschwächt werden, dass der Arbeitgeber bei ständig neuen Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers stets nur mit einer Kündigung droht, ohne jemals arbeitsrechtliche Konsequenzen folgen zu lassen. Andererseits kann bei für sich genommen geringfügigen Pflichtverletzungen eines Arbeitnehmers mit hohem sozialen Besitzstand – hier Betriebsratsvorsitzender mit über 20-jähriger Betriebszugehörigkeit – je nach den Umständen eine einmalige Abmahnung nicht ausreichen, den Arbeitnehmer hinreichend zu warnen, dass er bei weiteren gleichartigen Pflichtverletzungen seinen Arbeitsplatz aufs Spiel setzt. Hat der Arbeitgeber durch zahlreiche Abmahnungen wegen gleichartiger Pflichtverletzungen – hier neun Abmahnungen wegen verspäteter Arbeitsaufnahme – deren Warnfunktion zunächst abgeschwächt, so muss er die (letzte) Abmahnung vor Ausspruch der Kündigung eindringlich gestalten. Gleichwohl wird die in der Abmahnung enthaltende Warnung nicht dadurch entwertet, dass sie beim Arbeitnehmer die Hoffnung offenlässt, der Arbeitgeber werde vielleicht "Gnade vor Recht ergehen lassen". Ansonsten wäre der ruhig und verständig abwägende, im Zweifel eher zur Nachsicht neigende Arbeitgeber benachteiligt. In welcher Form dies zu geschehen hat (eindringliches Abmahnungsgespräch, besonders hervorgehobener Text, "letztmalige Abmahnung" etc.) hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.
2. Wirkungsdauer und Tilgung
Rz. 260
Gemeint ist die Frage, nach Ablauf welcher Zeit der Arbeitgeber von sich aus tätig werden muss, um die Abmahnung und deren Folgen zu beseitigen bzw. die Abmahnung auch bei Verbleib in der Personalakte kündigungsrechtlich keine Wirkung mehr entfalten kann. Nach der Rspr. des BAG besteht keine bestimmte Frist. Eine ursprünglich berechtigte Abmahnung kann durch Zeitablauf gegenstandslos werden. Insb. kann es nach einer längeren Zeit einwandfreier Führung des Arbeitnehmers dem Arbeitgeber verwehrt sein, sich auf früher abgemahnte Pflichtverstöße des Arbeitnehmers zu berufen. Eine Abmahnung verliert ihre Bedeutung, wenn aufgrund Zeitablaufs oder neuer Umstände (z.B. einer späteren unklaren Reaktion des Arbeitgebers auf ähnliche Pflichtverletzungen anderer Arbeitnehmer) der Arbeitnehmer wieder im Ungewissen sein kann, was der Arbeitgeber von ihm erwartet bzw. wie er auf eine etwaige Pflichtverletzung reagieren wird. Hierbei ist insb. die Art der Verfehlung und das Verhalten des Arbeitgebers im Anschluss an die Abmahnung zu beurteilen.
Rz. 261
Für die Praxis sollte jedoch folgendes als Richtschnur angesehen werden:
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bei leichteren Pflichtverletzungen (z.B. geringe Unpünktlichkeit, geringfügige Schlechtleistung, insb. bei längeren beanstandungsfreien Zeiträumen) wird eine Wirkungsdauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr anzunehmen sein, |
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bei mittelschweren Pflichtverletzungen (erhebliche Schlechtleistung, verspätete Krankmeldung, insb. wenn die Verfehlungen zu konkreten Beeinträchtigungen des Betriebsablaufs führen) eine Wirkungsdauer von ein bis drei Jahren und |
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bei schweren Pflichtverletzungen (z.B. Trunkenheit im Dienst, Beleidigungen, Tätlichkeiten, längeres unentschuldigtes Fehlen) bis zu fünf Jahren. |
Rz. 262
Ein Anspruch auf Entfernung berechtigter Abmahnungen aus der Personalakte allein wegen Zeitablaufs besteht grundsätzlich nicht. Nach der früheren Rspr. des BAG war im Rahmen dieser Konstellation ein Entfernungsanspruch in Ausnahmefällen gegeben. Da nunmehr bei Kündigungen langjähriger Arbeitsverhältnisse der Auf- und Abbau des objektiv zu beurteilenden Vertrauenskapitals substantiiert darzulegen ist, kann hieran nicht mehr festgehalten werden.
3. (Bewährungs-)Zeitraum zwischen Abmahnung und Kündigung
Rz. 263
Aus dem Sinn und Zweck der Abmahnung folgt, dass der Zeitraum zwischen Abmahnung und Kündigung nicht zu kurz bemessen sein darf. Dies gilt insbesondere bei Leistungsmängeln im eigentlichen Sinn, also unzureichenden Arbeitsleistungen hinsichtlich Qualität und Quantität.