Rz. 9
Eine Massenentlassung liegt nach § 17 Abs. 1 KSchG vor, wenn der Arbeitgeber innerhalb von 30 Kalendertagen
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in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer, |
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in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 % oder mehr als 25 Arbeitnehmer, |
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in Betrieben mit in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer |
entlässt.
Rz. 10
Ob der Arbeitgeber im zeitlichen Zusammenhang mit der Entlassung von Arbeitnehmern neue Arbeitnehmer einstellt, spielt dabei keine Rolle. Die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG sind insoweit niedriger als die Vorgaben der Richtlinie. Das deutsche Recht macht damit von der in Art. 5 der Richtlinie vorgesehenen Befugnis der Mitgliedstaaten Gebrauch, für Arbeitnehmer günstigere Regelungen zu treffen.
I. Begriff des Betriebes
Rz. 11
Eine Massenentlassung liegt vor, wenn in einem Betrieb mit einer bestimmten Belegschaftsgröße eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern entlassen wird. Indem der Massenentlassungsschutz an die Betriebsgröße gebunden wird, soll gewährleistet werden, dass den betroffenen Arbeitgebern nicht eine im Verhältnis zu der Größe ihres Betriebs übermäßige Belastung auferlegt wird. Dabei knüpft der Massenentlassungsschutz an die Betriebsgröße an, nicht an die Größe des Unternehmens. Die Konzeption des Massenentlassungsschutzes gemäß § 17 Abs. 1 KSchG weicht damit von derjenigen des § 111 BetrVG ab, der die Informationspflichten bei Betriebsänderungen (mittlerweile) von der Größe des Unternehmens abhängig macht; dies ist aus unionsrechtlicher Sicht aber zwingend, da im Hinblick auf die (betriebsbezogenen) Schwellenwerte der Richtlinie das alleinige Abstellen auf das Unternehmen für die Arbeitnehmer ungünstiger sein könnte, was mit den Vorgaben der Richtlinie nicht vereinbar wäre.
1. Unionsrechtlicher Betriebsbegriff
Rz. 12
Der Begriff des Betriebes ist nach der Rechtsprechung des BAG zunächst betriebsverfassungsrechtlich zu bestimmen, mithin ist auf den Betrieb i.S.v. § 1 BetrVG abzustellen. Betrieb in diesem Sinne ist die organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Arbeitgeber allein oder mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe von technischen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Ein qualifizierter Betriebsteil gilt gemäß § 4 BetrVG als selbstständiger Betrieb, wenn in ihm mindestens fünf Arbeitnehmer beschäftigt sind und der Betriebsteil von dem Hauptbetrieb räumlich weit entfernt oder durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig ist. Die Qualifikation eines Betriebsteils als eigenständiger Betrieb wird durch die Teilnahme der Arbeitnehmer an den Wahlen des Hauptbetriebes nicht beeinflusst.
Rz. 13
Allerdings hat der EuGH wiederholt darauf hingewiesen, dass der Betriebsbegriff der Richtlinie nicht anhand der nationalen Rechtsordnungen, sondern autonom unionsrechtlich zu definieren ist. Ein Betrieb im unionsrechtlichen Sinne ist demnach eine "unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt. Ob die fragliche Einheit eine Leitung hat, die selbstständig Massenentlassungen vornehmen kann, ist nicht entscheidend."
Rz. 14
Damit geht der unionsrechtliche Betriebsbegriff über den der §§ 1, 4 BetrVG hinaus, was bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung des § 17 KSchG zu berücksichtigen ist. Eine organisatorische Einheit muss weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen, um als Betrieb qualifiziert zu werden. Insbesondere kann demnach auch ein einfacher Betriebsteil, der keine hinreichend verselbstständigte Leitungsstruktur besitzt und deshalb nicht als qualifizierter Betriebsteil i.S.v. § 4 BetrVG angesehen werden kann, wie dies bei einer Filialstruktur häufig der Fall ist, als Betrieb i.S.v. § 17 Abs. 1 BetrVG anzusehen sein. Ausreichend ist ein Mindestmaß an organisatorischer Selbstständigkeit und eine Leitungsperson, die arbeitstechnische Weisungsrechte ausübt.