Dr. Michael Nugel, Victoria Nordmann
Rz. 45
Das Deliktsrecht sieht in den §§ 823 ff. BGB eine Haftung nur dann vor, wenn der Schädiger schuldhaft gehandelt hat. Dies setzt voraus, dass eine Verschuldensfähigkeit besteht. Bei Kindern unter sieben Jahren ist zu beachten, dass diese nach § 828 Abs. 1 BGB für von ihnen verursachte Schäden nicht verantwortlich sind. Minderjährige (d.h. Kinder und Jugendliche von sieben bis 17 Jahren) sind nach §§ 828 Abs. 2 und Abs. 3 BGB nur bedingt verantwortlich. § 828 Abs. 2 BGB ist mit dem 2. Schadensrechtsänderungsgesetz neu gefasst worden und dient dem umfassenden Schutz von Kindern bestimmter Altersgruppen aufgrund einer Überforderungssituation im Verkehr.
Nach § 828 Abs. 2 S. 1 BGB besteht ein Haftungsausschluss, wenn der Minderjährige zwar das siebte, aber noch nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat und er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug (ebenso Schienen- oder Schwebebahn) einen Schaden verursacht hat. Dieser Haftungsausschluss entfällt nach § 828 Abs. 2 S. 2 BGB, wenn der Minderjährige den Schaden vorsätzlich herbeiführt.
Von besonderer Relevanz ist dieser Haftungsausschluss in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind verschuldensabhängige Ansprüche gegen das Kind als Schadensverursacher betroffen. Zum anderen kann eine Kürzung der eigenen Ansprüche des Kindes wegen eines Mitverschuldens ausgeschlossen sein. Dem Wortlaut dieser Vorschrift nach kommt diese Haftungsbeschränkung für jeden Unfall mit einem Kraftfahrzeug in Betracht.
Rz. 46
Die Rechtsprechung nimmt nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift jedoch eine teleologische Reduktion vor. Ein Ausschluss der Verantwortlichkeit ist nur dann möglich, wenn sich in dem Unfall eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass der Gesetzgeber einen Ausschluss der Verantwortlichkeit erreichen wollte, wenn altersbedingte Defizite des Kindes zu einem Unfall führen – wie z.B. die mangelnde Fähigkeit, Entfernung und Geschwindigkeit herannahender Fahrzeuge richtig einschätzen zu können. Bei anderen Situationen (im ruhenden Verkehr) ist von Seiten des Gesetzgebers dagegen davon ausgegangen worden, dass Kinder generell nicht überfordert sind. Darauf, ob sich diese Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu verhalten, kommt es im Hinblick auf die generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit von Kindern durch § 828 Abs. 2 S. 1 BGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002 (BGBl I S. 2674) nicht an.
Entscheidendes Kriterium für die Einschränkung des Anwendungsbereiches des § 828 Abs. 2 BGB ist nunmehr die "spezifische Gefahrensituation des motorisierten Verkehrs".
Rz. 47
Nach diesen Grundsätzen ist ggf. eine teleologische Reduktion der Vorschrift vorzunehmen, wenn sich keine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat. Hiernach hat der BGH die Haftungsfreistellung verneint in Fällen, in denen Kinder der privilegierten Altersgruppe mit einem Kickboard oder Fahrrad gegen ein ordnungsgemäß geparktes Fahrzeug gestoßen sind und dieses beschädigt haben. Demgegenüber hat der BGH eine typische Überforderungssituation für einen Minderjährigen unter zehn Jahren in mehreren Fällen bejaht: So für einen achtjährigen Jungen, der mit dem Fahrrad gegen einen in einer Straßeneinmündung anhaltenden Pkw stieß, wobei die Sicht für ihn durch eine Hecke beeinträchtigt war; bei einem Zusammenstoß zwischen dem führungslos rollenden Fahrrad eines achtjährigen Jungen und dem Fahrzeug des Geschädigten, das in diesem Augenblick vorbeifuhr; zuletzt für das Fahren mit dem Fahrrad gegen die geöffneten hinteren Türen eines am Straßenrand stehenden Pkw. Aus diesen Senatsentscheidungen ergibt sich, dass für das Eingreifen des Haftungsprivilegs nicht grundsätzlich zwischen dem fließenden und dem ruhenden Verkehr zu unterscheiden ist, wenn es auch im fließenden Verkehr häufiger als im sog. ruhenden Verkehr eingreifen mag. In besonders gelagerten Fällen kann sich auch im ruhenden Verkehr eine spezifische Gefahr des motorisierten Verkehrs verwirklichen. Für die Frage, ob der Haftungsausschluss nach § 828 Abs. 2 S. 1 BGB überhaupt in Betracht kommt, ist maßgebend darauf abzustellen, ob eine typische Fallkonstellation der Überforderung des Kindes durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe im motorisierten Straßenverkehr gegeben war. Allerdings kommt es nicht darauf an, ob sich die Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu verhalten. Um eine klare Grenzlinie für die Haftung von Kindern zu ziehen, hat der Gesetzgeber die Fallgestaltungen vielmehr einheitlich in der Weise geregelt, dass er die Altersgrenze der Deliktsfähigkeit von Kindern für...