Gerhard Ring, Line Olsen-Ring
A. Grundlagen
Rz. 1
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als erste rechtsverbindliche internationale Menschenrechtskodifikation wurde am 4.11.1950 in Rom unterzeichnet. Heute sind alle 44 Mitglieder des Europarats Vertragsstaaten der EMRK (da in der Praxis die Unterzeichnung und Ratifikation der EMRK eine Voraussetzung für den Beitritt zum Europarat ist, vgl. Art. 3 der Satzung des Europarats).
Rz. 2
Hinweis: Gemäß Art. 11 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag) achtet die Europäische Union (EU) die Grundrechte, wie sie sich aus der EMRK ergeben, womit Letztere Rechtserkenntnisquelle für die Grundrechte der EU ist. In der Folge besteht zwar keine Bindung der EU an die EMRK, wohl aber eine Bindung der EU-Mitgliedstaaten. Was die Rechtsprechung anbelangt, erfolgt eine parallele Auslegung der Grundrechte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und den Europäischen Gerichtshof (EuGH).
Rz. 3
Die Europäische Grundrechtecharta (fortan GRC) bindet nach ihrem Art. 51 zum einen alle Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union (EU), zum anderen auch die EU-Mitgliedstaaten, soweit diese Unionsrecht umsetzen (z.B. europäische Richtlinien in ihr nationales Recht transformieren). Die GRC ist damit dann anwendbar, wenn ein europäischer Bezug besteht. Sie findet hingegen auf rein nationale Sachverhalte keine Anwendung. Hier bilden bspw. in Deutschland die Grundrechte den alleinigen Prüfungsmaßstab.
Rz. 4
Als "nichtverbindliches Soft law-Dokument" normiert die GRC in enger Anlehnung an die EMRK unter Zusammenfassung der bisherigen EuGH-Judikatur in ihrem Kohärenzartikel, Art. 52 Abs. 2 der GRC, folgende Feststellung: "Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weitergehenden Schutz gewährt."
Rz. 5
Hinweis: Bei Anwendung von EU-Recht durch die EU-Mitgliedstaaten sind diese an die EU-Grundrechte gebunden (vgl. Art. 51 GRC). Deren Einhaltung kann durch den EuGH überprüft werden. Andererseits haben die EU-Mitgliedstaaten als Europaratsmitglieder zugleich die EMRK zu beachten, wobei hier die Zuständigkeit des EGMR besteht. Damit "müsste dieser (d.h. der EGMR) indirekt Gemeinschaftsrecht am Maßstab der EMRK prüfen. Diese Konsequenz ist aber noch unklar".
Rz. 6
Art. 9 GRC gewährleistet das (einklagbare) (Abwehr-)Recht, eine Ehe einzugehen (Eheschließungsfreiheit – wonach die Eheschließung nicht disponibel und in der freien Entscheidung der Betroffenen wurzelt), und das Recht, eine Familie zu gründen (Familiengründungsfreiheit – d.h. das Recht, Kinder zu zeugen ["wann immer und wie viele"] und in einem weiten Sinne auch zu "haben"), nach Maßgabe der einzelstaatlichen Gesetze, die die Ausübung dieses Rechts regeln.
Rz. 7
Die Rechte unterliegen Schranken und Begrenzungen – und soweit Art. 9 GRC mit Art. 12 EMRK "deckungsgleich" ist, gelten die Einschränkungen nach Art. 52 Abs. 1 und 3 GRC. Nach Art. 52 Abs. 1 GRC muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt der Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC haben – soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen – diese die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weitergehenden Schutz gewährt. Folge ist, dass Art. 9 GRC nicht hinter Art. 12 EMRK zurückstehen darf.
Rz. 8
Nach der Erläuterung zur GRC stützt sich "dieser Artikel (d.h. Art. 9 GRC) … auf Art. 12 EMRK, der wie folgt lautet: “Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht, nach den innerstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechts regeln, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen‘. Die Formulierung dieses Rechts wurde (in der GRC) zeitgemäßer gestaltet, um Fälle zu erfassen, in denen nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften andere Formen als die Heirat zur Gründung einer Familie anerkannt werden. Durch diesen Artikel wird es weder untersagt noch vorgeschrieben, Verbindungen von Menschen gleichen Geschlechts den Status der Ehe zu verleihen. Das Recht ist also dem von der EMRK vorgesehenen Recht ähnlich, es kann jedoch eine größere Tragweite haben, wenn die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften dies vorsehen".
Art. 9 GRC lässt – anders als Art. 12 EMRK – damit die Anerkennung gleichgeschlechtl...