A. Allgemeines
Rz. 1
Grundsätzlich wird der Anwalt mit den Problemen der Auslegung von letztwilligen Verfügungen erst nach Eintritt des Erbfalls konfrontiert, z.B. im Rahmen einer Erbauseinandersetzung oder einer Erbenfeststellungsklage. Die Auslegungsregeln sind aber gleichermaßen auch bei der Gestaltung letztwilliger Verfügungen von Bedeutung. Ohne Kenntnis der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften und ohne Kenntnis der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung führt ein Testament im Erbfall möglicherweise nicht zu dem gewünschten Ziel.
Auslegungsprobleme können sich in den verschiedensten Bereichen ergeben. So kann beispielsweise nicht nur der Inhalt einer letztwilligen Verfügung (Erbeinsetzung oder Vermächtnis), sondern auch die Fragen, ob überhaupt eine letztwillige Verfügung vorliegt und um welche Art von Verfügung es sich handelt, streitig sein.
Der Auslegung zugänglich sind dabei nicht nur privatschriftliche Testamente, sondern auch notariell errichtete letztwillige Verfügungen von Todes wegen. So hat das OLG Frankfurt bspw. ausgeführt, dass die notarielle Belehrungspflicht (§ 17 BeurkG) die Möglichkeit, dass der vom Notar formulierte Wortlaut des Testaments den Willen der Testierenden nur unpräzise erfasst, nicht ausschließt. Streitigkeiten der Parteien über die Auslegung letztwilliger Verfügungen können nach h.M. durch einen sog. Auslegungsvertrag geklärt werden.
B. Die tatsächliche und ergänzende Testamentsauslegung
I. Die tatsächliche Auslegung
Rz. 2
Vorrangiges Ziel jeder Auslegung ist es, den tatsächlichen Willen des Erblassers zu ermitteln. Hierfür ist der Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung maßgebend. Letztlich ist aus Sicht des Erblassers festzustellen, was dieser mit seiner Niederlegung sagen wollte. Die maßgebliche Vorschrift ist hierfür zunächst § 133 BGB.
Rz. 3
Aufgrund der Formbedürftigkeit der Verfügung von Todes wegen darf durch Auslegung aber kein anderer Wille des Erblassers ermittelt werden als der, der zumindest andeutungsweise im Testament enthalten ist. Es gilt hier die von der Rechtsprechung entwickelte "Andeutungstheorie". Jede Auslegung ist dahingehend zu überprüfen, ob der ermittelte Wille auch hinreichend im Testament verankert ist bzw. Anhaltspunkte dafür bietet. Dennoch sind nicht nur die einzelnen Worte und Redewendungen, die der Erblasser benutzt hat, maßgebend. So sind zur Erforschung des tatsächlichen Willens des Erblassers auch außerhalb der Urkunde liegende Umstände, die allgemeine Lebenserfahrung und alle sonstigen Erkenntnismittel für die Auslegung heranzuziehen, sofern sie in der Verfügung von Todes wegen eine Verankerung finden. Das OLG Saarbrücken führt hierzu aus:
Zitat
"Es sind alle zugänglichen Umstände vor und nach Errichtung der Verfügung, die im Zusammenhang mit den in ihr enthaltenen Erklärungen stehen, heranzuziehen; es sind das gesamte Verhalten der Vertragsschließenden sowie alle ihre Äußerungen und Handlungen zu berücksichtigen; der Gesamtinhalt der Erklärung einschließlich aller Nebenumstände ist als Ganzes zu würdigen."
Rz. 4
Nach Ansicht des BGH ist in erster Linie der tatsächliche Erblasserwille maßgebend, wenn er feststeht und formgerecht erklärt wurde. Für die Feststellung des Erblasserwillens ist von dem Wortlaut der Verfügung von Todes wegen auszugehen. Soll bei der Auslegung vom Wortlaut abgewichen werden, so müssen hierfür besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Erblasser mit dem Gesagten etwas anderes gemeint hat.
Rz. 5
Ist der tatsächliche Wille des Erblassers trotz Auslegung nicht festzustellen, so ist in einem weiteren Schritt der mutmaßliche Wille des Erblassers zu ermitteln bzw. ist der Inhalt der Verfügung dahingehend auszulegen.
II. Die ergänzende Auslegung
Rz. 6
Von der tatsächlichen Auslegung zu unterscheiden ist die ergänzende Auslegung. Die ergänzende Auslegung greift in dem Fall, in dem es gilt, Veränderungen, die zwischen der Testamentserrichtung und dem Zeitpunkt des Erbfalls eingetreten sind, dem Willen des Erblassers anzupassen. Im Rahmen der ergänzenden Testamentsauslegung ist letztlich der Wille des Erblassers zu ermitteln, den dieser gehabt hätte, wenn er die späteren Veränderungen vorhergesehen oder bedacht hätte. Deshalb wird die ergänzende Auslegung auch "hypothetische Auslegung" genannt. Der klassische Fall ist z.B. der, dass der vermachte Gegenstand nicht mehr im Nachlass vorhanden ist. Ist der vermachte Gegenstand veräußert worden, kann durch ergänzende Auslegung der Veräußerungserlös als vermacht angesehen werden, sofern er sich noch im Nachlass befindet.
Rz. 7
Weitere typische Anwendungsfälle der ergänzenden Auslegung sind z.B. die durch die "Wende" in der ehemaligen DDR auftretenden Veränderungen oder aber auch der Wegfall einzeln zugeordneter Nachlassgegenstände. Gerade der Ber...