Gundolf Rüge, Dr. iur. Holger Fahl
Rz. 97
Der Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt entspricht vergleichbaren Haftungsausschlüssen anderer Gefährdungshaftungstatbestände (§ 1 Abs. 2 HaftpflG, § 4 UmweltHG, § 89 Abs. 2 Satz 3 WHG). Nach h.A. ist höhere Gewalt ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit hinzunehmen ist. Durch den Begriff der höheren Gewalt sollen die Risiken ausgeschlossen werden, die bei rechtlicher Bewertung nicht mehr der Betriebsgefahr der Anlage, sondern allein einem Drittereignis zuzurechnen sind. Bei durch solche Ereignisse bewirkten Schäden verwirklicht sich das besondere Risiko der Gefährdungshaftung nicht. Wegen der Erläuterung der einzelnen Merkmale der höheren Gefahr – betriebsfremd, von außen, außergewöhnlich und unabwendbar – wird auf Rdn 30 ff. verwiesen. Die Beweislast für das Vorliegen höherer Gewalt trägt der zunächst haftpflichtige Anlageninhaber.
Rz. 98
Kein Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt gilt nach § 2 Abs. 3 Nr. 3 letzter HS HaftpflG für Schäden, die auf das Herabfallen von Leitungsdrähten zurückzuführen sind. Für solche Schäden besteht – wie in den Fällen der § 33 LuftVG und § 25 AtomG – die absolute Gefährdungshaftung. Herabfallen von Leitungsdrähten bedeutet die Verringerung ihres Bodenabstandes soweit, dass Personen oder Sachen damit ohne weiteres in gefährliche Berührung kommen können. Das erfordert kein Brechen oder Reißen des Drahtes, auch wenn Leitungsdrähte oft infolge dessen herabfallen. Leitungsdrähte sind vielmehr auch dann herabgefallen, wenn die Drähte sich – gleich aus welchem Grund – herabgesenkt haben oder unvorschriftsmäßig tief herabhängen. Denn Gegenstand der Gefährdungshaftung von Inhabern elektrischer Leitungsanlagen ist gerade die Gefahr, dass Dritte mit Leitungsdrähten in Berührung kommen, weil sich deren Abstand vom Boden verringert hat. Der Gesetzgeber hat das Herabfallen von Leitungsdrähten gerade in dem Bewusstsein, dass häufige Ursache dessen Ereignisse wie Blitz, Sturm, Raureif oder Vogelflug sind, die als höhere Gewalt angesehen werden können, aus dem Haftungsausschluss ausgenommen.
Rz. 99
Für die Anlagenhaftung einer Gemeinde bei Grundstücksschäden durch Wiederaustritt von Niederschlagswasser aus einer Abwasserkanalisation hat der BGH für die bis dahin umstrittene Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen sich die Gemeinde gegenüber der Wirkungshaftung auf höhere Gewalt berufen kann, folgendes klargestellt: Die Berufung des Betreibers einer Abwasserkanalisation auf höhere Gewalt ist bei einem ganz ungewöhnlichen und seltenen Regenereignis (Katastrophenregen), wie es mit einer Wiederkehrzeit von mehr als 100 Jahren vorliegt, nicht ausgeschlossen. Zwar verwirklicht sich in einem solchen Fall die Gefahr einer Rohrleitungsanlage gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 HaftpflG. Die Gefährdungshaftung für Rohrleitungsanlagen findet jedoch ihre Grenze in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Kommunen und dem von ihnen vernünftigerweise zu erwartenden Aufwand bei der Auslegung ihres Kanalsystems, die bei einem Katastrophenregen mit einer Wiederkehrzeit von mehr als 100 Jahren überschritten ist.