Gundolf Rüge, Dr. iur. Holger Fahl
Rz. 42
Die Haftung des Bahnbetriebsunternehmers setzt als Gefährungshaftung kein Verschulden voraus. Das Eigenverschulden des Geschädigten kann seine Haftung gemäß § 254 BGB jedoch mindern oder ausschließen, wie der Gesetzesverweis in § 4 HaftpflG klarstellt. Für einen Unfall im Straßenverkehr, der bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs und einer Schienenbahn verursacht worden ist, erfolgt die Schadensverteilung gemäß § 17 Abs. 4 StVG nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG. Diese Vorschrift geht als Spezialregelung sowohl dem § 4 HaftpflG und dem § 9 StVG als auch § 13 HaftpflG und § 254 BGB vor. Für das Mitverschulden Minderjähriger gilt § 828 Abs. 2 und 3 BGB. Gemäß § 828 Abs. 1 und 2 BGB sind das Mitverschulden und die Haftung von Kindern bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres bei Unfällen im Straßen- und Bahnverkehr ausgeschlossen. § 828 Abs. 2 S. 1 BGB enthält für Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren die Vermutung deren Deliktsunfähigkeit im motorisierten Straßenverkehr. Sie haften deshalb nur bei eigenem Vorsatz (§ 828 Abs. 2 S. 2 BGB). Maßgebender Zeitpunkt ist jeweils der der Vornahme der schädigenden Handlung, nicht des Schadenseintritts. Der Haftungsausschluss des § 828 Abs. 3 BGB wegen fehlender Einsicht zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit (Zurechnungsfähigkeit) betrifft somit nur noch Kinder ab Vollendung des zehnten Lebensjahres.
Zu den Einzelheiten der Abwägung nach § 254 BGB vgl. § 18 Rdn 43 ff., 66 f.
Rz. 43
Mitverschulden bei der Entstehung des Schadens liegt grundsätzlich dann vor, wenn der Geschädigte diejenige Sorgfalt und Aufmerksamkeit außer Acht lässt, die jedem ordentlichen und verständigen Menschen obliegt, um sich vor Schaden zu bewahren. Die Beweislast für ein die Haftung minderndes Mitverschulden des Geschädigten hat auch im Bereich der Gefährdungshaftung regelmäßig der Ersatzpflichtige. Das Vorbringen ist verfahrensrechtlich Einwand und nicht Einrede und das hierauf bezogene Vorbringen im Prozess von Amts wegen zu beachten.
Rz. 44
Als Abwägungskriterien stehen sich hauptsächlich die konkrete Betriebsgefahr der Bahn und – abgesehen von etwaiger mitwirkender Betriebsgefahr auf Seiten des Geschädigten – der Grad des Mitverschuldens des Geschädigten gegenüber. Konkrete Betriebsgefahr bedeutet, wie sich die allgemeine Betriebsgefahr der Bahn im Einzelfall für Art und Schwere des Schadens ausgewirkt hat. Einerseits kann eine erhöhte Betriebsgefahr der Bahn ihren Haftungsanteil erhöhen oder das Mitverschulden des Geschädigten entfallen lassen. Andererseits kann grobe Fahrlässigkeit des Geschädigten den Haftungsanteil der Bahn erheblich vermindern oder gar entfallen lassen.
Rz. 45
Erhöhte Betriebsgefahr der Bahn kommt in Betracht, wenn die Gefahren, die regelmäßig und notwendig mit dem Zugverkehr verbunden sind, durch das Hinzutreten besonderer betrieblicher Umstände vergrößert werden, sei es beispielsweise, dass sich Bedienstete des Bahnunternehmers sachwidrig verhalten, dass Mängel am Zug die Verkehrssicherheit beeinträchtigen oder die Gestaltung und Kennzeichnung der Streckenführung die Gefahren des Bahnbetriebs gegenüber sonstigen Strecken erhöht.
Rz. 46
Beispiele für erhöhte Betriebsgefahr
Verspäteter Zug hält nicht an der im Wagenstandsanzeiger angegebenen Stelle, so dass Fahrgast beim Aufsuchen seines reservierten Abteils in der Eile verunglückt, Betrieb eines Vergnügungszugs mit Tanzwagen, unbeschrankter Bahnübergang, plötzliches Anfahren einer fast haltenden Straßenbahn, um zu dem vorderen frei gewordenen Teil einer Doppelhaltestelle vorzufahren, schadhaftes Trittbrett, mangelhafte Sichtverhältnisse, Überfüllung von Zügen, Versagen der Bremsen, Versagen der Warnanlage am Bahnübergang, Straßenbahnbetrieb in Einbahnstraße.
Rz. 47
Grobe Fahrlässigkeit des Verletzten kann im Wege der Abwägung dazu führen, dass eine Haftung der Bahn aus normaler Betriebsgefahr voll ausgeschlossen ist.
Rz. 48
Beispiele für den Ausschluss der Bahnhaftung wegen grober Fahrlässigkeit des Geschädigten
Auffahrunfall im Schienenbereich; Unfall eines Arbeiters, der sich unter grober Außerachtlassung der Sicherheitsvorschriften in den Fahrbereich eines Zuges begeben hatte; Überschreitung eines besonderen Gleiskörpers der Straßenbahn durch einen Fußgänger; Verletzung des Vorfahrtsrechts der Eisenbahn auf höhengleichem unbeschrankten Bahnübergang. Der BGH hat es jedoch abgelehnt, bei grober Fahrlässigkeit des Verletzten die Eisenbahnbetriebsgefahr stets außer Betracht zu lassen.
Für diese Abwägung des Grades des Verschuldens des Getöteten oder Verletzten gegen den Grad der Betriebsgefahr der Bahn lässt sich die nachfolgende grobe Regel aufstellen:
Normale Betriebsgefahr bei geringem Mitverschulden = überwiegender Haftungsanteil der Bahn
Normale Betriebsgefahr bei mittlerem Mitverschulden = Schadensteilung
Normale Betriebsgefahr bei grobem Mitverschulden = Haftungsfreistellung der Bahn
Erhöhte Betriebsgef...