Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 502
Auch bei nicht geschäftsfähigen Betroffenen kann der Versuch gemacht werden, mit ihrem Vertreter über einen Pflichtteilsverzicht Gestaltungsfreiheit zu erhalten.
Ein Pflichtteilsverzicht durch einen Betreuer muss aber durch das Betreuungsgericht genehmigt werden. Ob eine solche Genehmigung erteilt wird, richtet sich derzeit noch nach § 1901 Abs. 2 BGB. Danach hat der Betreuer die Geschäfte so zu besorgen, wie es dem Wohl des Betreuten entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Dem Betreuer obliegen erhöhte Nachforschungspflichten um zu vermeiden, dass rechtliche Konstrukte zu Lasten des Betreuten gebildet werden, nur um den Verzicht genehmigungsfähig zu machen.
Rz. 503
Bei der Genehmigung durch das Betreuungsgericht ist das Wohl des Betreuten Prüfungsmaßstab, nicht aber die Belange Dritter wie etwa potenzieller Erben. Das Betreuungsgericht trifft die Amtspflicht, den entscheidungserheblichen Sachverhalt sorgfältig aufzuklären und eine Gesamtabwägung aller Vor- und Nachteile vorzunehmen. Die Aufklärung muss sich auch auf die wirtschaftlichen Folgen des zu genehmigenden Rechtsgeschäfts und auf die daraus etwa drohenden finanziellen Nachteile erstrecken. Neben rein materiellen Interessen können aber unter Umständen auch eingreifende ideelle Interessen zu berücksichtigen sein. "Diese Aufklärung ist der Ermessensausübung bei der Entscheidung über den Genehmigungsantrag vorgelagert und schafft die tatsächlichen Grundlagen für eine fehlerfreie Betätigung des Ermessens." Ausgehend von den subjektiven Vorstellungen und Wünschen des Betroffenen als maßgeblichem Aspekt hat sich das Betreuungsgericht auf den Standpunkt eines verständigen, die Tragweite des Geschäfts überblickenden Volljährigen zu stellen. Es kann auch Erwägungen der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit anstellen. Maßgebender Gesichtspunkt ist das Gesamtinteresse, wie es sich zur Zeit der tatrichterlichen Entscheidung darstellt.
Rz. 504
Vor dem Hintergrund dieser strikten Genehmigungsanforderungen im Betreuungsrecht kommt ein unentgeltlicher Verzichtsvertrag nach Auffassung der Literatur in der Regel nicht in Betracht, obwohl der BGH in seiner Entscheidung konkret über einen Sachverhalt entschieden hat, in dem die behinderte Verzichtende nicht wirklich eine Gegenleistung bekommen hat, sondern nur eine Beteiligung am Nachlass des letztversterbenden Elternteils mit all den Restriktionen eines Behindertentestaments in der Form der Erbschaftslösung. Darin lag nach dem Sachverhalt kaum eine große Begünstigung der Betroffenen.
Neu ist aber, dass ein Betreuter als Bezieher von Eingliederungshilfe nach §§ 90 ff. SGB IX seit 2020 völlig anderen – und im Vergleich zum SGB XII großzügigeren – Anrechnungsregeln von Einkommen und Vermögen unterliegt, so dass er bei einem unentgeltlichen Verzicht möglicherweise gravierend schlechter stünde als bei einer erbrechtlichen Begünstigung. Das gilt es zu berücksichtigen, so wie stets eine Gestaltung ohne Blick auf die sozialrechtlichen Konsequenzen unzureichend ist. Zu beachten ist dabei zusätzlich, dass viele Eingliederungshilfebezieher daneben gleichzeitig Grundsicherung nach §§ 41 ff. SGB XII mit völlig anderen – engeren – Normen der Anrechnung von Einkommen und Vermögen beziehen. Für die erforderliche Abfindung ist deshalb die Prüfung unvermeidbar, wie sich eine solche Abfindung in das System des SGB XII und die Nachrangregeln einfügt.
Rz. 505
Die solche Abfindung bringt nur dann eine wirkliche Verbesserung der Lebenssituation des Verzichtenden, wenn dadurch weder bedarfsdeckendes Einkommen (§§ 82 ff. SGB XII) noch bedarfsdeckendes Vermögen (§ 90 SGB XII) geschaffen wird. Man muss also nach Schontatbeständen i.S.v. "normativen Schutzschirmen" suchen. Dabei mag man als Grundregel vor Augen haben: Wenn akzeptiert wird, dass der existentielle Lebensunterhalt (§§ 19 Abs. 1 und 2 SGB XII) selbst finanziert wird und nicht aus der Sozialhilfe kommen muss, dann lässt sich im System der Zumutbarkeitsregeln und sonstigen "normativen" Schontatbestände navigieren mit Aussicht darauf, dass eine solche Regelung Bestand hat. Das können die oben zitierten Beispiele sein, z.B. auch eine angemessene selbstbewohnte Wohnung i.S.v. § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII. Denkbar sind auch Verpflichtungen, eine Nutzung zu ermöglichen, wie z.B. die Überlassung eines Therapietieres zur Nutzung.
Hinweis
Die Literatur schlägt – als Alternative zum Behindertentestament – einen Pflichtteilsverzicht gegen Abfindung in der Form einer Leibrente vor. Entschieden wurde bisher nur im SGB II über eine Abfindungszahlung. Solche Abfindungsleistungen sind aber keine Alternativen, sondern letztlich Gestaltungen, die einkalkulieren, dass anrechenbare Einkünfte i.S.d. § 82 SGB XII geschaffen werden.