Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 64
Wenn feststeht, dass Zuwendungen qualitativ Einkommen sind und offenkundig ist, dass sie nicht per se dem Grunde nach zu den normativ bestimmten Schoneinkünften i.S.d. §§ 82 ff. SGB XII gehören, dann bedeutet das nicht gleichzeitig, dass dieses Einkommen bedarfsdeckend angerechnet werden kann. Seine Nichtberücksichtigung kann sich daraus ergeben, dass der Einsatz von Einkünften als Einkommen immer ihre bedarfsbezogene Verwendungsmöglichkeit voraussetzt.
a) Bedarfsbezogene Verwendungsmöglichkeit
Rz. 65
Eine zugewendete behindertengerechte Reise mag z.B. zwar den Bedarf einzelner Positionen des Regelbedarfes abdecken, ist aber nicht geeignet einen sozialhilferechtlichen Bedarf insgesamt entfallen zu lassen. Stets muss das rechtserheblich geprüfte Einkommen dazu geeignet sein, den aktuell und konkret bestehenden gesamten Bedarf zu decken.
Eine zugewendete Eigentumswohnung mag den Bedarf an Wohnen abdecken, aber nicht allgemein die notwendigen Kosten für Unterkunft, Heizung und Warmwasser.
Ob eine Zuwendung einen sozialhilferechtlichen Bedarf abdeckt, ergibt sich aus einem Abgleich mit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG). §§ 5 ff. RBEG weisen die 12 Positionen aus, die vom Regelbedarf umfasst sind. Ob man dazu kommen darf, Zuwendungen auf Anteile des Regelbedarfs zu verrechnen, ist fraglich. Vgl. dazu das Fallbeispiel 14: Die zweckgebundene Geldgabe (siehe § 2 Rdn 97).
b) "Bereite" Mittel
Rz. 66
Die Strukturprinzipien des Sozialhilferechts (vgl. hierzu Rdn 37 ff.) konkretisieren und begrenzen die Zuflusstheorie, die darüber bestimmt, ob etwas Einkom men oder Vermögen ist. Entscheidend sind die tatsächlichen Verhältnisse des Hilfesuchenden.
Eine konkrete Anrechnung auf den gegenwärtigen Bedarf darf nur dann erfolgen, wenn tatsächlich greifbar ist, dass damit eine Bedarfsdeckung möglich ist.
Deshalb darf Einkommen nicht fiktiv zugerechnet werden. Im SGB II spricht das BSG davon, dass ungeschriebenes zusätzliches Tatbestandsmerkmal des Einkommenstatbestandes sei, dass als Einkommen nur solche Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen seien, die im Monat des Zuflusses als "bereite Mittel" zur Existenzsicherung eingesetzt werden könnten.
Rz. 67
Fallbeispiel 20: Der Verzicht auf den Pflichtteil
Die Ehegatten wollen sich gegenseitig auf den ersten Erbfall zu Alleinerben einsetzen. Die testierfähige behinderte Tochter T, die in einer Einrichtung lebt und wegen Mittellosigkeit Grundsicherung (§§ 41 ff. SGB XII) und Eingliederungshilfe (§ 90 SGB IX) bezieht, verzichtet auf den Tod des Erstversterbenden auf ihren Pflichtteil. Auf den Tod des Zweitversterbenden wird sie durch gemeinschaftliches Testament der Ehegatten zur nicht befreiten Vorerbin im Sinne eines klassischen Behindertentestaments eingesetzt. Ihr Bruder B wird Nacherbe. Die Tante T wird Testamentsvollstreckerin.
Der Sozialhilfeträger ist nach dem Tod des ersten Elternteils der Auffassung, der Pflichtteilsverzicht sei sittenwidrig, weil sich die T damit sehenden Auges bedürftig gemacht habe. Ihr sei im Rahmen der Selbsthilfe zuzumuten, dass sie den Pflichtteilsanspruch realisiere und stellt die Leistungen ein. T beruft sich im notwendig werdenden Rechtsstreit darauf, dass sie im Rahmen der vom BGH ausdrücklich als geschützt anerkannten negativen Erbfreiheit nicht sittenwidrig gehandelt habe. Wer ein Erbe ausschlagen könne, der könne auch verzichten (BGHZ 188, 196).
Rz. 68
Bei der Prüfung der Wirksamkeit eines Pflichtteilsverzichts (§ 2346 BGB) sind komplexe Rechtsfragen zu klären. Der BGH hat den Verzicht auf den Pflichtteil durch einen Sozialhilfebedürftigen als nicht sittenwidrig angesehen. Die Entscheidung darüber, ob ein Erbe die Erbschaft bzw. den Pflichtteil erhalten wolle, werde durch die Privatautonomie gedeckt. Grundsätzlich ist danach jeder frei in seiner Entscheidung, ob er Erbe eines anderen werden oder auf andere Art etwas aus dessen Nachlass bekommen will:
Zitat
"In diesem Sinn steht Pflichtteilsberechtigten für einen Verzicht nicht nur die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie, sondern auch der Grundgedanke der Erbfreiheit zur Seite."
Rz. 69
Sozialhilferechtlich kann der verfassungsrechtlich geschützten negativen Erbfreiheit damit eigentlich nichts entgegengesetzt werden. Gleichwohl folgen die sozialhilferechtliche Rechtsprechung und Literatur dem nicht unbesehen:
Zitat
"Im Übrigen existieren auch Zweifel an der genannten Rechtsprechung (ergänzt: des BGH), soweit keine Ausnahmen gemacht werden. Gänzlich hinzunehmen seien danach Verzicht und Ausschlagung als zivilrechtlich eröffnete Gestaltungsmittel eines Hilfebedürftigen zulasten der Allgemeinheit nicht in jedem Fall (vgl. Armbruster in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 93 SGB XII, Rn 77)."
Rz. 70
Falllösung Fallbeispiel 20:
Der Streit zeigt, dass ohne weiteres davon auszugehen ist, dass der Tochter T durch den Tod des ers...