Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 397
Grundsätzlich gilt in der Sozialhilfe, dass sie nur geleistet werden kann, wenn kein eigenes bedarfsdeckungsbereites Einkommen oder Vermögen vorliegt. Trotz vorhandenen Einkommens und/oder Vermögen kann es ausnahmsweise im sozialhilferechtlichen Leistungstatbestand dazu kommen, dass der Sozialhilfeträger leistet. Das liegt daran, dass das grundsätzlich geltende Nettoprinzip in der Praxis nicht immer lupenrein durchgehalten werden kann. Würde man darauf bestehen, so würde das im Einzelfall immer wieder dazu führen, dass zunächst keine Sozialhilfeleistungen erbracht werden könnten, bis geklärt ist, ob der Bedürftige ggf. Leistungen von einem Dritten, z.B. aus einem Erbfall, beanspruchen kann.
Rz. 398
Fallbeispiel 33: Da hilft auch keine Gütertrennung
Die Ehegatten sind seit 40 Jahren verheiratet. Sie leben im Güterstand der Gütertrennung. Die Ehefrau wird nun heimpflegebedürftig im Pflegegrad 3 und die regelmäßigen Einkünfte der Ehegatten (1.700 EUR Rente auf der Seite des Ehemannes) reichen nicht aus, um die Heimkosten in Höhe von 3.700 EUR monatlich zu bezahlen. Die Mittel der gesetzlichen Pflegekasse im Pflegegrad 3 betragen 1.262 EUR monatlich.
Der Ehemann hat von seinen Eltern eine kleine Wohnung in Italien geerbt (Größe 75 qm und Wert 50.000 EUR, die er in der Vergangenheit für einige Wochen im Jahr mit seiner Ehefrau bewohnt hat.) Das Sozialamt verweigert der Ehefrau Sozialhilfe in der Form der Hilfe zur Pflege (§ 61 SGB XII), weil die Wohnung in Italien zunächst vorrangig für die Heimkosten eingesetzt werden müsse. Der Ehemann denkt nicht daran, sein ererbtes Eigentum zu verwerten, denn schließlich habe man ja Gütertrennung vereinbart. Seine Frau lebe jetzt im Heim und das sei ja schließlich eine dauernde Trennung und er habe mit diesen Kosten nichts zu tun. Er zahle auch keinen Beitrag aus seiner Rente.
Was wäre, wenn sich der Ehemann dauerhaft nach Italien absetzen würde?
Rz. 399
Trotz Fehlens einer gesetzlichen Anspruchsgrundlage kann nach h.M. ein Anspruch auf die sog. erweiterte Hilfe oder unechte Sozialhilfe bestehen. Dass es die Möglichkeit zu einer solchen Leistung gibt, wird aus § 19 Abs. 5 SGB XII abgeleitet, der eine solche Leistung voraussetzt. Sie steht im Ermessen des Sozialhilfeträgers. Das Ermessen kann ausnahmsweise auf null reduziert sein.
Um den Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe dennoch zu wahren, gibt § 19 Abs. 5 SGB XII dem Sozialhilfeträger in diesen Fällen einen Aufwendungsersatzanspruch. Der Leistungsberechtigte und die sonstigen nach § 19 Abs. 1 bis 3 SGB XII zum Einsatz von Einkommen oder Vermögen verpflichteten Personen haben dem Sozialhilfeträger dessen Aufwendungen zu erstatten, wenn rechtmäßig Leistungen erbracht worden sind, obwohl diesen Personen die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen oder Vermögen möglich oder zuzumuten ist.
Rz. 400
Zwar formuliert § 19 Abs. 5 SGB XII als Anspruchsvoraussetzung nur, dass Leistungen trotz bestehender Selbsthilfemöglichkeit erbracht worden sind. Der Aufwendungsersatzanspruch setzt jedoch voraus, dass die Leistungen rechtmäßig als erweiterte Hilfe gewährt worden sind. Außerdem muss es sich um einen begründeten Fall handeln. Das ist insbesondere dann gegeben, wenn:
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in einer gegenwärtigen Notlage die notwendige sofortige Bedarfsdeckung ohne die Gewährung erweiterter Hilfe an der Kostenfrage zu scheitern droht, also ein Krankenhaus- oder Heimträger sich weigert, Leistungen an den Hilfebedürftigen ohne volle Kostenübernahme durch den Sozialhilfeträger zu erbringen; |
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ein zur Leistung verpflichteter Dritter (z.B. der aus der Einsatzgemeinschaft heraus pflichtige Ehegatte oder Lebenspartner) die erforderliche Leistung verweigert; |
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die Einkommens- und Vermögensverhältnisse ungeklärt sind und es dem Leistungsberechtigten nicht zugemutet werde kann, bis zum Abschluss der Ermittlungen auf die Leistung zu verzichten. |
In diesen Fällen erfordert der Bedarfsdeckungsgrundsatz, der neben dem Nachranggrundsatz ein weiteres Strukturprinzip der Sozialhilfe darstellt, eine sofortige, vollumfängliche Hilfeleistung in voller Höhe durch den Sozialhilfeträger.
Rz. 401
Die erweiterte Hilfe ist keine Generalermächtigung an den Leistungsträger, Leistungen trotz vorhandener eigener Mittel und damit sehenden Auges rechtswidrig zu gewähren. Vor diesem Hintergrund darf erweiterte Hilfe nicht lediglich zum Zweck der Erleichterung des Verwaltungsverfahrens gewährt werden; der Sozialhilfeträger darf weder von seiner Pflicht zur genauen Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse noch von den strengen Anforderungen an die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte nach § 45 SGB X entbunden werden.
Rz. 402
Es liegt kein begründeter Fall vor, wenn die Leistungsvoraussetzungen geklärt sind und ausreichend Informationen über vorhandenes Einkommen und Vermögen vorliegen. Hohe Arbeitsbelastung und die Möglichkeit, die Prüfung, ob ein Anspruch tatsächlich besteht, hinauszuschieben, rechtfertigen ebenso wenig die Gewährung erweiterter Hilfe w...