Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 41
"Die Entscheidung, ob und inwieweit eine Person eine Krankheit diagnostizieren und behandeln lässt, muss sich nicht an einem Maßstab objektiver Vernünftigkeit ausrichten. Die Pflicht des Staates, den Einzelnen "vor sich selbst in Schutz zu nehmen", eröffnet keine "Vernunfthoheit" staatlicher Organe über den Grundrechtsträger", selbst wenn seine Entscheidung von durchschnittlichen Entscheidungskategorien abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint. Der Staat hat nicht das Recht, den zur freien Willensbestimmung fähigen Betroffenen zu erziehen, zu bessern oder zu hindern, sich selbst zu schädigen. Es ist dem Staat verwehrt, seine eigene Entscheidung vom "Besten" für den Betroffenen an die Stelle dessen autonomer Entscheidung zu setzen. Es gibt – verfassungsrechtlich gesichert – ein nur an wenige echte Grenzen stoßendes Recht auf
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Unvernunft |
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Krankheit und |
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Lebensgefährdung |
bis hin zum eigenen Tod, auch wenn dies in den Augen Dritter den wohlverstandenen Interessen des Betroffenen zuwiderläuft; auch nicht allein deshalb, um z.B. dem Betroffenen ein Leben außerhalb des Maßregelvollzugs zu ermöglichen.
Hinweis
In der Praxis zeigen sich jetzt erste Fälle, in der diese Freiheit zur Selbstschädigung an und über die Grenzen der Familienangehörigen im unmittelbaren Umfeld gehen kann; z.B. wenn Ehe- und Lebenspartner eine stationäre Versorgung verweigern und damit unzumutbare Lebensverhältnisse zu Hause schaffen. Die Anweisung an den Vorsorgebevollmächtigen, man wolle unbedingt so lange wie möglich zu Hause versorgt werden, muss daher in Vollmachten, Geschäftsbesorgungsverträgen oder Patientenverfügungen im Lichte dieser Probleme in der anwaltlichen Beratung noch einmal völlig neu gedacht werden.
Rz. 42
Nach der Rechtsprechung gewährleistet Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit, grundsätzlich frei über den Umgang mit seiner Gesundheit nach freiem Gutdünken zu entscheiden, sondern auch das Recht des Einzelnen darüber zu entscheiden, wie und wann er sein Leben beenden möchte, sofern er diesbezüglich zu einer freien Willensbildung in der Lage und fähig ist, entsprechend zu handeln. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben incl. des Rechts sein Leben eigenhändig, bewusst und gewollt zu beenden. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch auf die Freiheit bei der Selbsttötung bei Dritten Hilfe zu suchen und sie, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Das Recht, über das eigene Leben zu verfügen, ist dabei nicht auf schwere und unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. "Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG impliziert ferner, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf."
Rz. 43
Manche Wege zu einem aktiv selbstbestimmten Tod sind allerdings aus rechtlichen Gründen verschlossen. Der Patient kann aktiv nichts verlangen, was mit der Rechtsordnung nicht in Übereinklang steht. Er wird auch nicht in seinem Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben unzulässig beschränkt, weil die bestehenden Möglichkeiten der Realisation nicht seinen Vorstellungen entsprechen. Niemand, insbesondere kein Arzt, kann zur Mitwirkung an einer Selbsttötung gezwungen werden. Es besteht auch kein Anrecht darauf, die Freiheit zum Suizid in einer speziellen Form umzusetzen, z.B. durch den freien Erwerb von Betäubungsmitteln zum Zwecke der Selbsttötung.
Rz. 44
Die hochumstrittene Entscheidung des BVerwG aus 2017 zu diesem Thema hat sich mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit von § 217 StGB überholt. Die Rechtsprechung sieht in dieser Entscheidung eine grundlegende Änderung der Verhältnisse. Der Erwerb einer letalen Dosis Natrium Pentobarbital sei derzeit nicht die einzige zumutbare Möglichkeit Suizidwilliger, ihren Sterbewunsch umzusetzen:
Die Ärzteschaft hat ihre Entscheidung, dass sich die Verschreibung einer tödlichen Dosis eines Betäubungsmittels nicht mit den Regeln der Heilkunde und dem hippokratischen Eid vereinbaren lasse, nach der Entscheidung des BVerfG überdacht und § 16 S. 3 MBO-Ä aufgehoben. Diese Bestimmung sah vor, dass Ärzte keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen, während es nunmehr "eine individuelle Entscheidung des einzelnen Arztes sein soll, ob er den an ihn herangetragenen Wunsch nach assistiertem Suizid nachkommt und ein solches Handeln mit seinem Gewissen und seinem ärztlichen Selbstverständnis vereinbaren kann". Die Rechtsprechung sieht hierin ein Signal, dass weiterbestehende gegenteilige Landesberufsordnungen sicherlich auch einer alsbaldigen Überprüfung unterzogen werden.
Rz. 45
Die vorstehenden Grundsätze gehen vom "Leitbild des mündigen statt des bevormundeten Patienten" aus, bei dem Behandler und Behandelter "auf Augenhöhe" im therapeutischen ...