Isabel Hexel, Martina Hidalgo
Rz. 601
Nach dem vom Großen Senat des BAG im Grundsatzurteil vom 27.2.1985 entwickelten allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch hat ein Arbeitnehmer während der Dauer des Kündigungsschutzprozesses einen Beschäftigungsanspruch, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist oder wenn der Arbeitnehmer erstinstanzlich obsiegt hat.
Offensichtlich unwirksam ist eine Kündigung, wenn sich ihre Unwirksamkeit nach dem eigenen Vortrag des Arbeitgebers ohne Beweisaufnahme und ohne Beurteilungsspielraum aufdrängt. Erforderlich ist insofern, dass kein vernünftiger Zweifel an der Unwirksamkeit der Kündigung in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht besteht. Als offensichtlich unwirksam wird beispielsweise eine unter Verletzung des Schriftformerfordernisses (§ 623 BGB), unter Missachtung von Kündigungsverboten (MuSchG, BEEG, SGB IX etc.) oder ohne Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG) ausgesprochene Kündigung angesehen. Die bloße Ungewissheit über den Ausgang des Kündigungsschutzprozesses begründet demgegenüber keinen Weiterbeschäftigungsanspruch. Ein Weiterbeschäftigungsanspruch besteht erst, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzverfahren erstinstanzlich obsiegt hat und kein besonderes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung besteht.
Rz. 602
Zur Durchsetzung des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs ist die einstweilige Verfügung nur dann ein probates Mittel, wenn sich der Anspruch aus der offensichtlichen Unwirksamkeit der Kündigung ergibt und das erstinstanzliche Verfahren bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht abgeschlossen werden kann. Im Übrigen ist für eine einstweilige Verfügung kein Raum. Der nach Obsiegen in erster Instanz bestehende Weiterbeschäftigungsanspruch ist, als uneigentlicher Hilfsantrag, im Rahmen des Kündigungsschutzverfahrens zu stellen. Gibt das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage statt und wird vom Arbeitgeber kein überwiegendes, der Weiterbeschäftigung entgegenstehendes Interesse dargelegt, so erlangt der Arbeitnehmer mit Erlass des erstinstanzlichen Urteils einen Weiterbeschäftigungstitel. Diesen kann er bei Weigerung des Arbeitgebers im Wege der Zwangsvollstreckung durchsetzen. Hat der Arbeitnehmer es versäumt, im Kündigungsschutzverfahren einen Weiterbeschäftigungsantrag zu stellen, so kann er dies nach Abschluss der ersten Instanz nicht im einstweiligen Verfügungsverfahren nachholen. Nach Abschluss der ersten Instanz fehlt es für eine einstweilige Verfügung an der erforderlichen Dringlichkeit. Der Arbeitnehmer hat die Dringlichkeit selber herbeigeführt, indem er den Antrag auf Weiterbeschäftigung nicht mit der Kündigungsschutzklage verbunden hat.