Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
Rz. 600
Nach dem vom Großen Senat des BAG im Grundsatzurteil vom 27.2.1985 entwickelten allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch hat ein Arbeitnehmer während der Dauer des Kündigungsschutzprozesses einen Beschäftigungsanspruch, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist oder wenn der Arbeitnehmer erstinstanzlich obsiegt hat.
Offensichtlich unwirksam ist eine Kündigung, wenn sich ihre Unwirksamkeit nach dem eigenen Vortrag des Arbeitgebers ohne Beweisaufnahme und ohne Beurteilungsspielraum aufdrängt. Erforderlich ist insofern, dass kein vernünftiger Zweifel an der Unwirksamkeit der Kündigung in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht besteht. Als offensichtlich unwirksam wird beispielsweise eine unter Verletzung des Schriftformerfordernisses (§ 623 BGB), unter Missachtung von Kündigungsverboten (MuSchG, BEEG, SGB IX etc.) oder ohne Anhörung des Betriebsrats (§ 102 BetrVG) ausgesprochene Kündigung angesehen. Die bloße Ungewissheit über den Ausgang des Kündigungsschutzprozesses begründet demgegenüber keinen Weiterbeschäftigungsanspruch. Ein Weiterbeschäftigungsanspruch besteht dann erst, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzverfahren erstinstanzlich obsiegt hat und kein besonderes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung besteht. Die schutzwürdigen Interessen des Arbeitgebers an eine Nichtbeschäftigung überwiegen, auch wenn der Arbeitgeber nach einem erstinstanzlich klagstattgebenden Urteil eine weitere, nicht offensichtlich unwirksame Kündigung auf einen neuen Lebenssachverhalt stützt und die neue Kündigung nicht offensichtlich unwirksam ist.
Praxistipp
Ein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers kann auch mit einem zulässigen Auflösungsantrag gemäß § 9 KSchG begründet werden. Ein Auflösungsantrag kann insofern vom Arbeitgeber auch taktisch eingesetzt werden, um die Weiterbeschäftigung für die Dauer des Kündigungsschutzrechtsstreits zu vermeiden.
Rz. 601
Zur Durchsetzung des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs ist die einstweilige Verfügung nur dann ein probates Mittel, wenn sich der Anspruch aus der offensichtlichen Unwirksamkeit der Kündigung ergibt und das erstinstanzliche Verfahren bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht abgeschlossen werden kann. Im Übrigen ist für eine einstweilige Verfügung kein Raum. Der nach Obsiegen in erster Instanz bestehende Weiterbeschäftigungsanspruch ist, als uneigentlicher Hilfsantrag, im Rahmen des Kündigungsschutzverfahrens zu stellen. Gibt das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage statt und wird vom Arbeitgeber kein überwiegendes, der Weiterbeschäftigung entgegenstehendes Interesse dargelegt, so erlangt der Arbeitnehmer mit Erlass des erstinstanzlichen Urteils einen Weiterbeschäftigungstitel. Diesen kann er bei Weigerung des Arbeitgebers im Wege der Zwangsvollstreckung durchsetzen. Hat der Arbeitnehmer es versäumt, im Kündigungsschutzverfahren einen Weiterbeschäftigungsantrag zu stellen, so kann er dies nach Abschluss der ersten Instanz nicht im einstweiligen Verfügungsverfahren nachholen. Nach Abschluss der ersten Instanz fehlt es für eine einstweilige Verfügung an der erforderlichen Dringlichkeit. Der Arbeitnehmer hat die Dringlichkeit selber herbeigeführt, indem er den Antrag auf Weiterbeschäftigung nicht mit der Kündigungsschutzklage verbunden hat.