Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
Rz. 646
Ob der Betriebsrat mit einem Antrag auf Unterlassung einer Betriebsänderung im einstweiligen Verfügungsverfahren Erfolg hat, hängt stark davon ab, in welchem Gerichtsbezirk der Betrieb liegt, in dem die Betriebsänderung vorgenommen werden soll. Es besteht ein sog. "Nord-Süd-Gefälle": Während die Landesarbeitsgerichte im "Norden" (z.B. Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamm, Thüringen, Hessen) einen Unterlassungsanspruch zuerkennen, lehnen ihn die Gerichte im "Süden" (z.B. Baden-Württemberg, Nürnberg, München – bis auf die 6. Kammer des LAG München –, Düsseldorf, Köln, Rheinland-Pfalz) eher ab. Dieses "Gefälle" ist zwar nicht immer stabil, da einzelne Landesarbeitsgerichte (oder zumindest einzelne Kammern) im Hinblick auf europarechtliche Argumente ihre früher gefestigte Rechtsprechung aufgeben und einen Unterlassungsanspruch anerkennen. Trotzdem kann man nicht von einer "Trendwende" sprechen (zum Ganzen mit Rechtsprechungsübersicht vgl. § 2 Rdn 980 ff.). Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte ist uneinheitlich und differiert teilweise innerhalb eines Gerichts von Kammer zu Kammer.
Praxishinweis
Der Unternehmer sollte sich also bei einer Betriebsänderung stets darüber informieren, wie das für ihn zuständige Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht im Hinblick auf einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrats mutmaßlich entscheiden würde.
Das BAG hat selten Gelegenheit, über den Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bei Betriebsänderungen zu entscheiden, da der Instanzenzug im einstweiligen Verfügungsverfahren bei den Landesarbeitsgerichten endet. Es hat aber in einer neueren Entscheidung aus dem Jahr 2022 zwar einerseits die eigentliche Frage ausdrücklich offengelassen, weil ein eventueller Unterlassungsanspruch schon aus anderen Gründen scheiterte; andererseits hat es aber auch ausdrücklich auf seine Entscheidung vom 3.5.1994 als "grundlegend" verwiesen. Im Urteil aus dem Jahr 1994 stellte das Gericht fest, dass nicht jede Verletzung von Rechten des Betriebsrats ohne Weiteres zu einem Unterlassungsanspruch führe. Vielmehr komme es auf die einzelnen Mitbestimmungstatbestände, deren konkrete gesetzliche Ausgestaltung und die Art der Rechtsverletzung an. Deshalb sei es auch nicht widersprüchlich, einen allgemeinen Unterlassungsanspruch bei Verstößen gegen § 87 BetrVG zu bejahen, ihn aber im Zusammenhang mit der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu verneinen. Diese Auffassung hat das BAG auch nochmals in einer späteren Entscheidung bestätigt: „Ein allgemeiner Unterlassungsanspruch des Betriebsrats könne allenfalls in den Fällen bestehen, in denen im Rahmen der "Mitbestimmungstatbestände jegliches Handeln des Arbeitgebers der Zustimmung des Betriebsrats bedarf". Es spricht also einiges dafür, dass das BAG keinen Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bei Betriebsänderungen sieht.
Rz. 647
Auch wenn das Arbeitsgericht grundsätzlich einen Verfügungsanspruch des Betriebsrats anerkennt, kann es an einem solchen im konkreten Einzelfall fehlen: Hat der Arbeitgeber z.B. die geplante Betriebsänderung bereits vollständig umgesetzt und damit einen irreversiblen Zustand geschaffen, sind die Verhandlungen über einen Interessenausgleich gegenstandslos und können auch nicht mehr nachgeholt werden. Ein etwaiger Unterlassungsantrag des Betriebsrats wird dann wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses abgewiesen, da es keinen Verhandlungsanspruch mehr gibt, der im Wege der einstweiligen Verfügung gesichert werden könnte. Das gleiche gilt, wenn keine Wiederholungsgefahr für eine gleichartige betriebsverfassungsrechtliche Pflichtverletzung besteht, weil z.B. ein Gemeinschaftsbetrieb bereits aufgelöst ist und künftig eine Arbeitgeberin allein – und damit nicht mehr zwei Arbeitgeber gemeinsam – handeln.