Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
1. Typischer Sachverhalt (Beispielsfall)
Rz. 642
Die A-GmbH beschäftigt über 800 Mitarbeiter an vier Standorten in Deutschland. Sie muss den Betrieb in Musterstadt mit 280 Mitarbeitern spätestens Ende September des laufenden Jahres schließen, da andernfalls allein die Personalkosten zu einem ständigen Verlust führen, der die anderen Arbeitsplätze des Unternehmens gefährdet. Seit Anfang des Jahres informierte die Geschäftsleitung den Betriebsrat deshalb über die zunehmend schwierigere wirtschaftliche Lage und versuchte, Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen aufzunehmen. Der Betriebsrat reagierte zunächst nicht und verzögerte auch in der folgenden Zeit die Verhandlungsaufnahme mit dem Argument, er hätte noch nicht genügend Informationen. Als die A-GmbH schließlich versucht, den Betriebsrat wegen Scheiterns der innerbetrieblichen Verhandlungen zur Besetzung der Einigungsstelle zu bewegen, äußert er sich auch hierzu nicht, sodass das Bestellungsverfahren nach § 100 ArbGG eingeleitet wird. Da es mittlerweile Mitte April ist, sieht die A-GmbH sich gezwungen zu handeln und hört den Betriebsrat zu 280 betriebsbedingten Kündigungen an, informiert ihn schriftlich gemäß § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG über die anstehende Massenentlassung und fordert ihn zur Aufnahme von Beratungen nach § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG auf. Die A-GmbH befürchtet, dass der Betriebsrat wegen des nicht abgeschlossenen Interessenausgleichsverfahrens eine einstweilige Verfügung auf Unterlassung der Betriebsänderung beantragen wird.
2. Rechtliche Grundlagen
Rz. 643
Vermutet der Arbeitgeber, dass der Betriebsrat einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Unterlassung der Betriebsänderung gegen ihn stellen will, ist es ratsam, eine Schutzschrift zu hinterlegen. Dies erfolgt seit 1.1.2016 elektronisch über die Einstellung in das Zentrale Schutzschriftenregister (ZSSR, § 945a Abs. 1 ZPO). Die Schutzschrift gilt dann als bei allen Arbeitsgerichten der Länder eingereicht (§§ 62 Abs. 2 S. 3, 85 Abs. 2 S. 3 ArbGG). Näheres zur Einreichung findet man unter https://schutzschriftenregister.hessen.de. Seit dem 1.1.2017 sind Rechtsanwälte gem. § 49c BRAO berufsrechtlich dazu verpflichtet, das Zentrale Schutzschriftenregister zu verwenden.
a) Instrument der Schutzschrift
Rz. 644
Das Instrument der Schutzschrift hat sich lange vor seiner gesetzlichen Verankerung in § 945a ZPO, §§ 62 Abs. 2 S. 3 und 85 Abs. 2 S. 3 ArbGG durchgesetzt. Damit soll ausgeschlossen werden, dass das Gericht ohne Kenntnis der eigenen Rechtsposition ggf. ohne mündliche Verhandlung eine einstweilige Verfügung erlässt. Schutzschriften sind nach der gesetzlichen Legaldefinition "vorbeugende Verteidigungsschriften gegen zu erwartende Anträge auf Arrest und einstweilige Verfügung" (§ 945a Abs. 1 S. 2 ZPO).
Rz. 645
Wegen des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs und des Untersuchungsgrundsatzes im Beschlussverfahren besteht spätestens seit der gesetzlichen Anerkennung der Schutzschrift als Instrument des Zivilprozesses eine Verpflichtung des Gerichts, Vorbringen aus der Schutzschrift zu berücksichtigen.
b) Verfügungsanspruch des Betriebsrats
Rz. 646
Ob der Betriebsrat mit einem Antrag auf Unterlassung einer Betriebsänderung im einstweiligen Verfügungsverfahren Erfolg hat, hängt stark davon ab, in welchem Gerichtsbezirk der Betrieb liegt, in dem die Betriebsänderung vorgenommen werden soll. Es besteht ein sog. "Nord-Süd-Gefälle": Während die Landesarbeitsgerichte im "Norden" (z.B. Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamm, Thüringen, Hessen) einen Unterlassungsanspruch zuerkennen, lehnen ihn die Gerichte im "Süden" (z.B. Baden-Württemberg, Nürnberg, München – bis auf die 6. Kammer des LAG München –, Düsseldorf, Köln, Rheinland-Pfalz) eher ab. Dieses "Gefälle" ist zwar nicht immer stabil, da einzelne Landesarbeitsgerichte (oder zumindest einzelne Kammern) im Hinblick auf europarechtliche Argumente ihre früher gefestigte Rechtsprechung aufgeben und einen Unterlassungsanspruch anerkennen. Trotzdem kann man nicht von einer "Trendwende" sprechen (zum Ganzen mit Rechtsprechungsübersicht vgl. § 2 Rdn 980 ff.). Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte ist uneinheitlich und differiert teilweise innerhalb eines Gerichts von Kammer zu Kammer.
Praxishinweis
Der Unternehmer sollte sich also bei einer Betriebsänderung stets darüber informieren, wie das für ihn zuständige Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht im Hinblick auf einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrats mutmaßlich entscheiden würde.
Das BAG hat selten Gelegenheit, über den Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bei Betriebsänderungen zu entscheiden, da...