Rz. 90

Das tatrichterliche Urteil muss Feststellungen enthalten, aus denen sich ableiten lässt, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsüberschreitung entweder vorsätzlich oder "nur fahrlässig" begangen hat (zur Beweiswürdigung OLG Zweibrücken, Beschl. v. 3.2.2022 – 1 OWi 2 SsBs 113/21, NZV 2022, 348 = DAR 2022, 401;). Ist der Betroffene wegen einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt worden, muss der Verteidiger darauf achten, ob sich dem Urteil sowohl das insoweit erforderliche Wissen – als auch das Wollenselement entnehmen lässt (dazu auch Burhoff/Burhoff, OWi, Rn 2429, und Fromm, DAR 2019, 375). Das bedeutet:

 

Rz. 91

Allein daraus, dass ein Betroffener eine Geschwindigkeitsbeschränkung gekannt hat, kann – noch – nicht geschlossen werden, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit zum Tatzeitpunkt auch bewusst und gewollt überschritten und somit vorsätzlich gehandelt hat (OLG Bamberg, VA 2014, 32 = DAR 2014, 38 = VRR 2014, 76; NStZ RR 2019, 126 [Ls.] = zfs 2019, 294 = VA 2019, 103 [Vertrauen auf einen "Abstandspiloten"; DAR 2019, 389 = NStZ-RR 2019, 258 = VA 2019, 141 [BAB]; OLG Celle, VRS 131, 310 = NStZ-RR 2017, 388 = VRR 10/2017, 17; OLG Hamm, NZV 1998, 124 = VRS 94, 466 = zfs 1998, 75; OLG Zweibrücken, DAR 2011, 274; s.a. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 3.2.2022 – 1 OWi 2 SsBs 113/21; Beschl. v. 11.7.2022 – 1 OWi 2 SsBs 39/22). Für die Feststellung einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung ist es auch nicht ausreichend, wenn der Amtsrichter in seinem Urteil zur inneren Tatseite lediglich ausführt, der Betroffene sei sich bewusst gewesen, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten war. Entscheidend für den Vorsatz ist nämlich außerdem, dass der Betroffene die erhebliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auch überhaupt bemerkt hat (OLG Celle, a.a.O.; OLG Hamm, DAR 1998, 281). I.d.R. sind aber keine Feststellungen dazu erforderlich, dass der Verkehrsteilnehmer ein die zulässige Höchstgeschwindigkeit beschränkendes Verkehrsschild (Zeichen 274) bemerkt hat (zuletzt KG, Beschl. v. 19.11.2018 – 3 Ws (B) 258/18 m.w.N.). Grds. ist davon auszugehen, dass Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäß aufgestellte Vorschriftszeichen auch tatsächlich wahrnehmen (BGHSt 43, 241; KG, a.a.O.; OLG Bamberg, DAR 2019, 389 = NStZ-RR 2019, 258 = VA 2019, 141 [BAB]; OLG Koblenz, Beschl. v. 8.3.2021 – 4 OWi 6 SsRs 26/21, zfs 2021, 229 = NZV 2021, 437 = VRR 7/2021, 20 [Vorbeifahrt an mehreren Vorschriftszeichen]; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.4.2020 – 1 OWi 2 SsBs 8/20, VA 2020, 181; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 3.2.2022 – 1 OWi 2 SsBs 113/21, BZV 2022, 348 = DAR 2022, 401); es gibt dazu aber keinen Erfahrungssatz (KG, Beschl. v. 31.7.2020 – 3 Ws (B) 174/20, VA 2020, 185). Der Vorsatz des Betroffenen muss i.Ü. auch nicht das Maß der Überschreitung ziffernmäßig genau erfassen (OLG Hamm, a.a.O.; Beschl. v. 7.2.2022 – 5 RBs 12/22). Es reicht vielmehr das Wissen um das Maß der Erheblichkeit der Überschreitung (zu allem a. Burhoff/Burhoff, OWi, Rn 2429).

 

Rz. 92

Zur Feststellung des Vorsatzes können vom Tatrichter neben der ggf. geständigen Einlassung des Betroffenen weitere Umstände herangezogen werden, die in einer Gesamtschau dann die Annahme von Vorsatz rechtfertigen (zum Umfang der Feststellungen/Prüfung OLG Celle, VRS 131, 310 = NStZ-RR 2017, 388 = VRR 10/2017, 17; OLG Schleswig, SchlHA 2008, 272 bei Döllel/Dreßen; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 11.7.2022 – 1 OWi 2 SsBs 39/22; zur Beweiswürdigung OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.4.2020 – (2 B) 53 Ss-OWi 169/20 (87/20), DAR 2020, 467). Das können z.B. sein

die Ortskenntnis des Betroffenen.
der Umstand, dass dieser vor einer Messstelle abgebremst hat (OLG Hamm, DAR 1999, 178 = VRS 96, 291 für Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 82 %.)
sowie insb. aber auch das Maß der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (KG, NZV 2004, 598; VA 2019, 140; OLG Rostock, VRS 108, 376), wobei eine vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung auch dann angenommen werden kann, wenn sich die Geschwindigkeitsüberschreitung zwar im unteren Bereich bewegt, der Betroffene aber über eine längere Strecke mit gleich bleibend zu hoher Geschwindigkeit unter Missachtung einer größeren Anzahl von Geschwindigkeitsbeschränkungen fährt (OLG Jena, DAR 2008, 35 = VRS 113, 354 = VRR 2008, 154 [für Geschwindigkeitsüberschreitung im Bereich der Thüringer Tunnelkette]),
wenn sich der Fahrzeugführer beim Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit über einen Zeitraum von sechseinhalb Sekunden im Berufsverkehr auf einer vielbefahrenen Straße, anstatt den Verkehr zu beobachten, der Lektüre von Speichermedien widmet (KG, Beschl. v. 30.8.2021 – 3 Ws (B) 140/21, VRR 1/2022, 3 [Ls.]), also abgelenkt ist,
nicht der Umstand/die Feststellung, der Betroffene sei zu schnell gefahren, "um schneller voranzukommen", denn der Wille, schnell voranzukommen, schließt nicht aus, lediglich sorgfaltspflichtwidrig die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten (OLG Cell...

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