Florian Kienle, Pius Dolzer
Rz. 94
Das Internationale Insolvenzrecht ist infolge der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2015 über Insolvenzverfahren (EuInsVO) zu weiten Teilen vergemeinschaftet. Die Neufassung der EuInsVO (EU) 2015/848 löste die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom 29.5.2000 ab, die gemäß Art. 19 der VO aufgehoben ist und nur noch für Altfälle Bedeutung hat (Art. 84 Abs. 1 S. 2 EuInsVO). Flankiert wird die EuInsVO aus deutscher Sicht durch die Regelungen des Art. 102 EGInsO, der durch das Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Insolvenzrechts vom 14.3.2003 neu gefasst wurde. Das autonome deutsche Recht hält in den §§ 335 ff. InsO ebenfalls eine Regelung zum Internationalen Insolvenzrecht vor. Diese Regelungen gelten nur außerhalb des Anwendungsbereichs der EuInsVO. Da die EuInsVO nach hier vertretener Auffassung auch das Verhältnis zu Drittstaaten regelt, werden die §§ 335 ff. InsO aufgrund des dadurch weitreichenden Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nur beiläufig erörtert, zumal sie im Wesentlichen von den entsprechenden Grundsätzen beherrscht sind. Vorausgegangen ist der Neufassung der EuInsVO eine umfassende wissenschaftliche Evaluation, auf deren Grundlage die EU-Kommission unter dem 12.12.2012 ihren Kommissionsvorschlag zur Reform der EuInsVO vorgelegt hat, mit dem die EuInsVO a.F. nach einer über zehnjährigen Geltungsdauer einer maßvollen Reform unterzogen werden sollte. Die Justizminister der Mitgliedstaaten hatten sich in der Sitzung des Rates für Justiz und Inneres am 4./5.12.2014 nach Maßgabe der mit dem EU-Parlament geführten Verhandlungen über den Inhalt der Neufassung in Gestalt eines alternativen Entwurfs verständigt. Im Zentrum der Reform stand die stärkere Betonung des Sanierungsansatzes, wozu zunächst der Anwendungsbereich der Verordnung (siehe Rdn 100) auf weitere Reorganisations- und Vergleichsverfahren und auch auf Verfahren in Eigenverwaltung (sowie auf natürliche Personen) erweitert werden sollte. Ferner sollte die Umstrukturierung grenzüberschreitender Unternehmen erleichtert und der bislang fehlende Rahmen für Gruppen- bzw. Konzerninsolvenzen – unter Beibehaltung der grundsätzlichen Trennung nach Rechtsträgern und damit im Wesentlichen im Wege von Koordinierungs- und Kooperationsvorschriften – geschaffen werden (vgl. Rdn 118 ff.). Wiederum im Sanierungsinteresse sollten die Rahmenbedingungen für die Durchführung von Sekundärverfahren modifiziert werden, u.a. durch die Implementierung weitreichender Kooperationspflichten für Verwalter und Gerichte (vgl. Rdn 104, 131 ff., 145), zudem sollte die Beschränkung auf Liquidationsverfahren gestrichen werden (vgl. Rdn 131). Außerdem sollte mit dem Reformvorschlag – u.a. mit einer Definition des COMI (siehe Rdn 113 ff.) und einer Präzisierung der Voraussetzungen der Vermutungswiderlegung (siehe Rdn 124) – im Interesse eines funktionierenden Binnenmarktes (Erkennbarkeit, Rechtssicherheit) dem Insolvenztourismus weiter vorgebeugt sowie eine Vernetzung der nationalen Insolvenzregister herbeigeführt werden. Die noch im Kommissionsvorschlag vorgesehene, ausdrückliche Annexzuständigkeit für im Zusammenhang mit der Insolvenz stehende Klagen wurde im Rat dagegen gestrichen (vgl. Rdn 105 ff.). Mit diesen Ansätzen ist das Europäische Insolvenzrecht von demselben Geist beherrscht, wie das durch das ESUG modernisierte und sanierungsfreundlicher ausgestaltete deutsche Unternehmensinsolvenzrecht mit seinem Einheitsmodell im Sinne eines ergebnisoffenen Insolvenzverfahrens und daher zwanglos mit den hiesigen rechtspolitischen Vorstellungen kompatibel. Die neugefasste EuInsVO wurde am 5.6.2015 im Amtsblatt der EU veröffentlicht und trat gemäß Art. 92 der Verordnung am 26.6.2016 in Kraft.
Rz. 95
Der EuInsVO liegen die auch im autonomen deutschen Internationalen Insolvenzrecht tragenden Prinzipien der Universalität und Einheit zugrunde, die sich in der Exklusivität des Hauptverfahrens widerspiegeln. Das Universalitätsprinzip beruht seinerseits auf dem Grundgedanken der Gleichbehandlung der Gläubiger, sog. par condicio creditorum.
Rz. 96
Die der Universalität und Einheit widerstreitenden Prinzipien der Pluralität und Territorialität, die dem Vertrauen des Rechtsverkehrs durch Anwendbarkeit des jeweils inländischen Insolvenzrechts für die dort belegene (Teil-)Vermögensmasse Rechnung tragen wollen, haben ebenfalls Eingang in die EuInsVO gefunden. Durch die in den Art. 8–18 ff. EuInsVO vorgesehenen Sonderanknüpfungen und die in Art. 3 Abs. 2–4, 34 ff. EuInsVO geregelten, territorial begrenzten Sekundärinsolvenzverfahren nach dem Recht des betreffenden Staates können die Vertrauensinteressen lokaler Gläubiger im Rahmen des grundsätzlich universellen und einheitlichen Verfahrens angemessen berücksichtigt werden.
Rz. 97
Dabei wird der internationale Gleichbehandlungsgrundsatz neben dem einheitlichen Hauptverfahren auch durch die Beteiligungsoffenheit der Nebenverfahren, an de...