Rz. 100
Der "Selbstbehalt" ist also kein absoluter Wert, der einem Unterhaltspflichtigen generell zugutekommt. Seine Höhe hängt insbesondere davon ab, wem gegenüber er eingewendet wird. Lediglich der "notwendige Selbstbehalt" ist die absolute Untergrenze dessen, was dem Unterhaltspflichtigen verbleiben muss, wobei auch hier zu unterscheiden ist, ob der Unterhaltspflichtige erwerbstätig ist (1.160 EUR) oder nicht (960 EUR). Diese Beträge errechnen sich aus 110 % des sozialhilferechtlichen Regelbedarfs (2022: 449 EUR × 110 % = 495 EUR), einem Betrag für angemessene Versicherungen (aktuell 30 EUR), Wohnkosten (aktuell 430 EUR), einem Freibetrag von 200 EUR bei Erwerbstätigkeit und einem – mittlerweile sehr geringen – "Puffer" von 5 EUR.
Rz. 101
Die Unterscheidung zwischen dem eheangemessenen Selbstbehalt und dem Ehegattenmindestselbstbehalt hatte in der Vergangenheit keine besonders große Bedeutung, da durch den Halbteilungsgrundsatz ohnehin das gebotene Gleichgewicht zwischen den Ehegatten, die gleiche Teilhabe, hergestellt wurde. Die Prüfung der Leistungsfähigkeit konnte sich im Wesentlichen auf die Einhaltung des Ehegattenmindestselbstbehalts beschränken. Dies wäre auch im Fallbeispiel möglich gewesen. Der eheangemessene Selbstbehalt war in der Vergangenheit z.B. in Fällen der Unterhaltspflicht gegenüber einer Ehefrau und einem nachrangigen volljährigen Kind von Bedeutung. Bei konkurrierenden Unterhaltsansprüchen von Ehefrauen bzw. Partnerinnen trat das Problem nicht hervor, solange die neue Ehefrau nach dem bis 31.12.2007 geltenden Unterhaltsrecht gegenüber der alten Ehefrau nachrangig war bzw. solange nach dem neuen Unterhaltsrecht zwischen dem Unterhaltspflichtigen und den konkurrierenden unterhaltsberechtigten Frauen das Gleichgewicht, das den eheangemessenen Bedarf und damit Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen wahrt, durch die Dreiteilungsmethode (vgl. Anhang Nr. 1) hergestellt wurde. Die Bedarfsermittlung nach der Dreiteilungsmethode wurde jedoch vom BVerfG für unzulässig erklärt (vgl. Fall 33, siehe § 9 Rdn 1 ff.). Dies führt dazu, dass die Unterhaltsansprüche konkurrierender Ehefrauen eine getrennte Bedarfsermittlung nach dem Halbteilungsgrundsatz erfordern und zudem bei der Ermittlung des Bedarfs der ersten Ehefrau der Unterhaltsanspruch bzw. Bedarf der zweiten Ehefrau bzw. Partnerin (nichteheliche Kindsmutter) außer Betracht bleibt. In diesen Fällen liegt es auf der Hand, dass das Gleichgewicht zwischen dem Unterhaltspflichtigen und der ersten Ehefrau, das dauerhaft bestehen muss, gestört wird, wenn der Unterhaltspflichtige von seiner Hälfte nunmehr etwas an eine neue Ehefrau bzw. eine nichteheliche Kindsmutter abgeben muss. In solchen Fällen kann es dazu kommen, dass dem Unterhaltspflichtigen zwar mehr als 1.280 EUR (Ehegattenmindestselbstbehalt) verbleibt, er aber eben weniger als die erste Ehefrau zur Verfügung hat, so dass sein eheangemessener Selbstbehalt (= eigener angemessener Unterhalt = "Kehrseite" des Unterhaltsbedarfs der ersten Ehefrau) nicht gewahrt ist. Dem wird künftig Rechnung zu tragen sein:
BGH, Urt. v. 7.12.2011 – XII ZR 159/09
Nach § 1581 Satz 1 BGB braucht der Verpflichtete, der nach seinen Erwerbs- und Vermögensverhältnissen unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung des eigenen angemessenen Unterhalts dem Berechtigten Unterhalt zu gewähren, nur insoweit Unterhalt zu leisten, als es mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Erwerbs- und Vermögensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten der Billigkeit entspricht.
Rz. 102
Vgl. hierzu auch die Fälle 33 bis 52.